Ergänzendes Material zu Hermann Kopps Beitrag „Die Zeichenfeder als Waffe“ in der UZ vom 20. Januar 2023

Der rote Faden in Zingerls Bildern und Zeichnungen

Werner Dreher

„Lasst uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen, damit es nicht einmal zu wenig gesagt wurde! Lasst uns die Warnungen erneuern, und wenn sie schon wie Asche in unserem Mund sind! Denn der Menschheit drohen Kriege, gegen welche die vergangenen wie armselige Versuche sind …“ 1952 hat Bertolt Brecht diese Zeilen geschrieben. Auf Zeichenpapier und Bildtafeln übertragen, durchziehen sie wie ein roter Faden auch das Lebenswerk Guido Zingerls. In der Reflexion gesellschaftlicher Verhältnisse in allen Facetten sieht er – unbeirrbar seit über sechs Jahrzehnten – die Aufgabe und die Berechtigung der Kunst. Scharfsichtige Zustandsanalysen und wiederholte Warnungen vor der destruktiven Kraft des Menschen fließen sowohl in seine Acrylbilder und Zeichnungen als auch in seine Karikaturen ein. Zingerls unverkennbare Bildsprache konfrontiert den Betrachter drastisch und unverhüllt mit Szenen höchster Bedrohung, absoluter Ungerechtigkeit und größter Grausamkeit.

Auch bei gröbster, manchmal bis zur Groteske gesteigerten Verzeichnung sind die von Zingerl ins Visier genommenen Figuren – Kapitalist, Politiker, Jurist, General und geistlicher Würdenträger – auf Anhieb zu erkennen. Kalte, fratzenhafte Gesichtslosigkeit verleiht er seinen Figuren, wenn er damit Menschenverachtung und Heuchelei bloßstellt. Ausgeprägte weiße Flächen künden häufig von gedanklicher Leere, begrifflicher Inhaltslosigkeit, Vernebelung und Verschleierung. In Zingerls frühen Tuschezeichnungen fügen sich unzählige, vermeintlich zusammenhanglose Bildelemente kunstvoll zu einer wohlbedachten Komposition. Der freie und der vergesellschaftete Mensch, Natur und Industrie, Freiheit und Bedrohung stehen einander dialektisch gegenüber. Bei aller Inhaltsschwere wirken die älteren Grafiken ruhiger und ästhetischer auf den Betrachter als die neueren. Denn ab den 1980er-Jahren zeichnet Zingerl Raumgefüge, die oft alle Regeln der Optik und Schwerkraft sprengen. Häufig versinnbildlichen große schwarze Flächen das Abgründige, Bedrohliche und Gewaltsame der dargestellten Szene. Zahnräder, Leitungssysteme, Straßen- und Brückenfragmente symbolisieren die globalisierte und vernetzte, ausgebeutete und verletzte Welt. Atemberaubende Perspektiven lenken den Fokus auf folgenschwere Handlungen und schlimme Zustände in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft. Zingerls alarmierende Welt- und Raumgebilde und düstere Visionen erweisen sich als prophetisch – nicht selten sind sie von der Realität eingeholt worden.

So detailreich und filigran Zingerls Tuschezeichnungen oft sind – bei seinen Karikaturen ist das Gegenteil der Fall. Mit wenigen, energischen Federstrichen und mit Freistellung der Figur bringt der Zeichner seine Wut, Empörung und Verzweiflung über seine Zeitgenossen und ihre heillose Welt zum Ausdruck. Wir erkennen, wie schrecklich aktuell Zingerls Bilder, die er in den zurückliegenden Jahrzehnten gemalt und gezeichnet hat, nach wie vor sind. Und wir erschaudern vor der Uneinsichtigkeit und Unbelehrbarkeit des selbsternannten Homo Sapiens – der Wortbedeutung nach wäre das eigentlich ein „verstehender, verständiger Mensch“. Zingerls Pinsel- und Federführung wird umso drastischer, je bitterer die Wahrheit ist, die aus seinen Bildern hervortritt. Sie zeigen prägnant und unverblümt, wie weit die realen politisch-gesellschaftlichen Lebensformen und ein von Naturnähe, Humanismus und sozialer Gerechtigkeit geprägtes Weltbild auseinanderklaffen – gestern, heute und morgen.

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