Was war das damals für eine irre Story! Der Chef eines Migrantenstammes steigt auf einen wolkenverhangenen Berg, um dort ein übernatürliches Wesen zu treffen. Während unten das gelangweilte Volk eine illegale Party schmeißt, erlebt der Chef oben ein spirituelles High der Extraklasse, wie einschlägige Quellen berichten: "Vierzig Tage und vierzig Nächte" ist er weg "und aß kein Brot und trank kein Wasser" (2. Buch Mose, 34, 28). Als er wieder herabsteigt, hat er einen stark verbesserten Teint ("die Haut seines Angesichts glänzte") und zwei schwere Steintafeln im Arm, die es in sich haben – zehn Gebote, angeblich von Gott persönlich verfasst, die kurz und bündig die Moral auf den Punkt bringen: "Du sollst nicht töten. Du sollst nicht ehebrechen. Du sollst nicht stehlen." Das hat Wumms, das sitzt, und bald überzeugen die neuen Regeln nicht nur das unwillige Volk Israel, sondern werden zum globalen Bestseller, der bis heute gelesen wird. Wow!

Kein Wunder, dass die evangelische Kirche auf die Idee kam, ein Remake dieses Welterfolgs zu versuchen: Die "Zehn Gebote des Internet", die die Kirche kürzlich vorstellte, sollen gleichsam die alten Steintafeln des Moses in die digitale Welt übersetzen. "Ich glaube, die Gesellschaft braucht das heute dringend", sagte der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, bei der Vorstellung.

In der Tat, die digitale Verführung ist groß, klare Regeln sind gefragt. Wie umgehen mit der Daten-Sammelwut, was tun gegen Cyber-Attacken, digitale Desinformation, Shitstorms auf Facebook oder Twitter – zu all diesen Fragen wünschte man sich hilfreiche Aussagen. So deutlich und unmissverständlich wie einst die mosaischen Donnerworte.

Doch ach, heutzutage klettert dazu niemand mehr auf einen Berg, schon gar nicht vierzig Tage ohne Wasser und Brot. Statt auf göttliche Eingebung setzt auch die Kirche lieber auf ein Expertengremium (in diesem Fall: die zwei Dutzend Theologinnen, Forscher, Stiftungs- und Verbandsvertreterinnen der "Kammer für soziale Ordnung der EKD"). Und das liefert, was ein Expertengremium eben so liefert: langatmige Betrachtungen statt prägnanter Botschaften. Statt zehn eindeutiger Sätze gibt es eine voluminöse "Denkschrift", die mit der Erkenntnis beginnt: "Digitale Technologie gehört zu unserem Alltag" – und in diesem Stil 245 Seiten lang weitergeht.

Wer nach der Neufassung der Zehn Gebote sucht, findet keine mosaische Klarheit, sondern postmoderne Schwammigkeit. Das Gebot "Du sollst nicht ehebrechen" klingt etwa so: "Bei Intimbeziehungen im digitalen Raum Freiheit und Achtsamkeit fördern"; das unmissverständliche "Du sollst nicht stehlen" verwandelt sich in die vage Forderung "Gerechte Teilhabe am digitalen Wirtschaften ermöglichen".

Bestimmt ist das alles wohl abgewogen, lang diskutiert und gut gemeint – aber leider hölzern und abstrakt. Kaum gelesen, schon fast wieder vergessen, oder könnten Sie die digitale Variante des Ehebrecher-Verbots zitieren, ohne noch einmal nachzuschauen? Dabei wäre gerade dieses Thema wie kein anderes dazu geeignet, jüngere User anzusprechen, wie überhaupt der Bedarf an überzeugenden Geboten für die Netzwelt durchaus vorhanden ist. Wer aber Digital Natives mit einer buchdicken Denkschrift überzeugen will, hat schon verloren. Die Halbwertszeit der neuen Digital-Gebote dürfte kürzer sein als die Dauer bis zum nächsten Update des iOS-Betriebssystems.

Doch wer bei der EKD nicht fündig wird, muss nicht verzweifeln. Im Zeitalter des Internets gibt es viele Weisheitsquellen, und statt Gott hilft zur Not auch Google: Einfach "10 Gebote Internet" eingeben, schon erhält man über eine Million Treffer.

Ein Vorschlag kommt beispielsweise von der Jugend-Beratungsplattform "juuuport" in Hannover. Diese hat 2016 zusammen mit Studierenden der Hochschule der Medien in Stuttgart "10 Gebote der digitalen Ethik" formuliert, die erfreulich knapp und deutlich ausfallen: "Erzähle und zeige möglichst wenig von dir", lautet etwa das erste Gebot. Das zweite, das in der Urfassung forderte: "Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Abbild machen", lautet nun passenderweise: "Akzeptiere nicht, dass du beobachtest wirst und deine Daten gesammelt werden."

Auch der britische Historiker Timothy Garton Ash hat auf www.freespeechdebate.com mit Studierenden aus aller Welt zehn Digital-Regeln aufgestellt. Darunter sind interessante Forderungen – etwa: "Wir respektieren alle Gläubigen, aber nicht unbedingt alle Glaubensinhalte", oder: "Wir nutzen jede Chance, Wissen zu verbreiten, und tolerieren hierbei keine Tabus." Der Bezug zum Original vom Berg Sinai allerdings ist nur schwer erkennbar.

Eher pragmatisch sind die "10 Gebote für den Umgang im Netz" der Sparda-Bank ("Halten Sie Ihre Software aktuell", "Sichern Sie Ihre Geräte"). Bestimmt nützlich, aber vom moralischen Anspruch her doch deutlich hinter Moses zurückbleibend.

So ist das Problem heute nicht der Mangel, sondern die Vielfalt möglicher Dekaloge, die einen vor das klassische Dilemma der digitalen Welt stellt: Wofür, um Himmels willen, soll ich mich entscheiden? Vielleicht müsste man darüber mal vierzig Tage und Nächte auf einem einsamen Berg nachdenken – aber ohne Handyempfang. Das wichtigste Gebot der Digitalzeit war schließlich schon Moses bekannt: Gönn dir eine Auszeit, und schalte mal ab!