Remels - George Bernhard Shaw hat gesagt: Die Jugend ist eine wunderbare Sache, wie schade, dass sie an Kinder verschwendet wird! Dieser Spott fordert zu einer Gegenposition heraus: Das Alter mit seinen Einsichten ist eine wunderbare Sache, wie schade, dass es die Menschen so lange darauf warten lässt! Wer das verstehen will, der höre Elisabeth Leonskaja Klavier spielen, am besten bei ihrem Gipfeltreffen mit Mozart bei einem der ostfriesischen Gezeitenkonzerte in Remels (Landkreis Leer).

Da ist Wolfgang Amadeus Mozart mit seinen drei Klaviersonaten Es-Dur KV 282, G-Dur KV 283 und D-Dur KV 284. Der Komponist war ein Heranwachsender, als er experimentell und frech gegen herkömmliche Formen und Inhalte verstieß. Das gehört zum Sturm und Drang eines jungen Genies.

Da ist Elisabeth Leonskaja (73), die ebenso in aller Welt gefeierte wie persönlich bescheidene große Dame der russischen Klavierschule. Sie ist keine Sinnsuchende mehr. Aber sie bewahrt sich die Neugier, hinter den Noten das Ungesagte hervorzukehren. So phrasiert sie kontrastreich, nimmt sich metrische Freiheiten heraus. Aber sie rüttelt nie gefährlich an den Strukturen. Mit verstärkten Akzenten der linken Hand etwa spitzt sie das Allegro in KV 283 zu.

Vollends aber die Sonate a-Moll, KV 310, 1778 unter dem Eindruck des plötzlichen Todes seiner Mutter erschaffen. Da besucht Leonskaja Mozart auf einem anderen Stern. Das aufwühlende Allegro maestoso schlägt sie in Beethovenscher Nähe den Hörern um die Ohren. Sie nutzt verstärkt das Pedal für Klangzuwachs. Aus erfüllten Augenblicken heraus rückt sie im Andante mit kleinen Verzögerungen, Beschleunigungen und virtuosen Verdichtungen ganz nah an Mozarts Inneres. Es ist keine Musik der Klassik mehr, keine der Frühromantik. Es ist eine zeitlose. Dieses und ein dezent mitschwingender optimistischer Charme machen das berührend Persönliche in ihrem Spiel aus.

Zur frühen Wiener Schule gesellt sich die Zweite Wiener. Arnold Schönbergs sechs Stücke op. 19 und Alban Bergs jugendliche Sonate op. 1. Die Pianistin zeigt, wie viel Eleganz, Melancholie, Zerbrechlichkeit, Farbenspiel und eigene Unsicherheit Schönberg komprimiert, ehe sie erlischt. Berg gibt schwärmerisch mehr Robustheit vor. Doch Leonskaja legt offen, wieviel in dieser Musik erst brodelt, ehe es oft leidenschaftlich ausbricht.

Leonskaja muss der Abend in der voll besetzten Martinskirche selbst beglückt haben. Die erste Zugabe mit einem Schubert-Impromptu genießt sie sichtbar. Es gibt stehende Ovationen. Die haben sich zwar inflationär eingebürgert, vielleicht, weil die Hörer froh sind, wenn sie von Kirchenbänken aufstehen können. Aber hier sind sie absolut ehrlich und berechtigt.