Herbsttradition RTF BüttgenDas letzte Rennen der Saison

Tim Farin

 · 21.10.2023

Schöne Herbsttradition: RTF Büttgen.
Foto: Philipp Hympendahl
Seit Jahrzehnten bewährt, seit Langem alternd, jetzt auf Verjüngungskurs: Bei der RTF in Kaarst-Büttgen zeigen sich Reiz und Realitäten des Vereinssports.

Es ist Herbst am Niederrhein, aber noch einmal hat sich die Sonne durchgesetzt an einem kühlen Morgen und den Nebel über den grünen Feldern im flachen Westen der Republik verscheucht. Es ist der letzte Septembertag, und auf einem Feldweg bei Bergheim geht es plötzlich um eine ­Todesmeldung. Ein älterer Herr im roten Marcel-Wüst-Trikot hat sich in eine grün gekleidete Gruppe Fahrer aus Krefeld eingereiht. Die Sprache kommt auf Manfred Nepp, der mit 1173 Siegen über alle Altersklassen in der Region eine Legende ist. Die Gruppe rollt, ein Mitfahrer aus Düsseldorf sagt: “Der ist gestorben.” “Wie, der Manni ist tot?”, fragt der Ältere. Er fragt die Jungs aus Krefeld, doch mehrere kennen Nepp, das Krefelder Urgestein, nicht, und der, der ihn kennt, weiß nichts von der Todesnachricht. Doch sie stimmt, und das wiederum wirft den Routinier im Sattel mental aus der Bahn. Er sei genauso alt wie Nepp, 82 Jahre. Wenn alle stürben, führe das bald zu Depressionen, es seien ja nicht mehr viele übrig. An der nächsten Verpflegung beendet er die Pause zügiger als die Sportskameraden in Grün und rollt weiter.

RTF Büttgen hat eine lange Vereinstradition

Der Herbst zieht heran, eine weitere Saison endet. Wer an diesem Samstagmorgen bei der Radtourenfahrt (RTF) in Kaarst-Büttgen an den Start rollt, sucht noch einmal nach dem Erlebnis der ausgeschilderten Rennradtour, organisiert durch Ehrenamtler im Vereinswesen. Traditionell gehört die RTF mit Start an der Büttgener Radbahn zu den letzten Veranstaltungen im Breitensportjahreskalender des Bund Deutscher Radfahrer. Zum 41. Mal organisiert der VfR Büttgen diese Tour. Die Tradition ist lang. Aber was ist mit der Zukunft? Hier am Niederrhein versuchen sie, das Bewährte anzubieten – und doch den organisierten Sport für neue, gern auch jüngere Menschen attraktiver zu gestalten. Ein mühsames Unterfangen.

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Als es gerade mal hell wird, als der volle Mond noch und die Sonne gerade erst am Himmel zu sehen sind, rollen bereits die ersten Ambitionierten über die Landstraßen nach Süden. Sie sehen gehetzt aus in ihrer Gruppe, echter Sport am frühen Morgen, dabei haben sie noch einiges vor sich. Die frühen Starterinnen und Starter haben sich aufgemacht zum Marathon, einem Brevet über 200 Kilometer. “Das ist neu, das haben wir einfach mal ausgeschrieben und wussten nicht genau, ob es zieht”, sagt Norbert Hilke, der beim VfR Büttgen für die Rad-Touristik zuständig ist. Die Idee: 45 Kilometer lang folgen die Brevet-Fahrer der ausgeschilderten Strecke, danach lassen sie sich vom digitalen Track führen. Am Wendepunkt gibt es Kaffee und Brötchen beim Bäcker, was im Startpreis von 15 Euro inbegriffen ist. Ein neues Angebot also, das ist immer auch ein Wagnis für den tradierten Vereinssport. “Wir haben uns dann gefragt: Warum wird das nicht angenommen?”, sagt Norbert Hilke. Es hätte sich lange Zeit kaum jemand registriert. “Aber gestern habe ich mir den Ausdruck gemacht, da waren es plötzlich schon 40.” Morgens kamen noch spontan acht Teilnehmer dazu. “Mit knapp 50 sind wir sehr zufrieden”, sagt Hilke auf der Bierbank gleich neben der Radrennbahn.

Ehrgeizig: Teilnehmer am Brevet sind schon beim ersten Licht bereit für die 200 Kilometer.Foto: Philipp HympendahlEhrgeizig: Teilnehmer am Brevet sind schon beim ersten Licht bereit für die 200 Kilometer.

Ehrenamtler zu finden ist schwierig

Für die 57-jährige Birte Mötter und ihren Partner Achim Boes, 64 Jahre alt, gehören Touren wie in Büttgen zu den festen Ritualen. Mötter kam über Boes zum Radsport, inzwischen will sie auch die RTF nicht mehr missen: “Ich finde es für mich toll, das ist ein bisschen wie ein Volksfest, man trinkt hinterher zusammen, kann mit anderen Fahrern reden und ausgeschilderte Strecken nutzen und kennenlernen”, sagt sie. Neues sehen, Neues erleben, das bietet eine RTF. Aber auch Bewährtes. Denn die beiden aus Duisburg waren im vergangenen Jahr auch zusammen in Büttgen. Es gefiel ihnen so gut, dass sie selbstverständlich wieder dabei sind. Ihr eigener Verein hat keine Kraft mehr, um eine Tour auszurichten.

"Das ist ein bisschen wie ein Volksfest." Birte Mötter und Achim BoesFoto: Philipp Hympendahl"Das ist ein bisschen wie ein Volksfest." Birte Mötter und Achim Boes

Man hört es von vielen Orten und sieht es auch, wenn man häufiger an RTF teilnimmt: Diese Perle des organisierten Vereinssports, bei der die Klubs ihre schönsten Strecken in Kombination mit zünftiger Verpflegung vorführen, steckt in der Überalterung. Es ist schwierig, jüngere Sportler zum Teilnehmen zu gewinnen. Noch schwieriger aber ist es, überhaupt die Leute fürs Ehrenamt zusammenzukratzen, was für einen solchen Tag Voraussetzung ist. Gebraucht werden Leute, die Bierbänke aufstellen und auch wieder abbauen, die an den Verpflegungsstellen Brötchen schmieren, oder neues Brot organisieren, wenn die Teilnehmerzahl doch größer ist als erwartet. Nicht selten werden RTF abgesagt, weil es an Personal für die Organisation mangelt. In Büttgen hingegen sind sie fest entschlossen, die Veranstaltung für die Zukunft zu wappnen.

Sie sind stolz beim VfR, dass sie ihre Veranstaltung auch während der Pandemie durchgezogen haben, natürlich immer mit den entsprechenden Hygienemaßnahmen, sagt Hilke. Mehr als 400 Leute seien immer da gewesen, da zahlt sich Kontinuität aus. “Uns hat Corona nicht das Genick gebrochen”, sagt er. Aber wie das so ist, wie man an die jungen Leute rankommt, die für die Perspektive dieser Veranstaltung irgendwann schon noch gebraucht werden, das kann er auch nicht klar sagen. Hilke spricht von einer “Manöverkritik”, die er machen will und die sie im Verein auch im Vorjahr gemacht haben, weil sie verstehen wollen, wie sie die Zukunft ihrer Tour sichern können. Der Marathon war eine Idee, offensichtlich eine, die gefruchtet hat.

Tradition trifft auf Neues, aber die beiden Herren am Klapptisch mit der Bargeldkasse, den Handzetteln und den Sicherheitsnadeln saßen auch im Vorjahr schon nebeneinander, wenn auch in der Turnhalle nebenan und nicht am Eingang der Radbahn. Am frühen Samstagmorgen kümmern sich Marek Piekarsky und Ulrich Philippi, Altersschnitt der beiden: 77, um die Anmeldungen zur RTF. Sie müssen auch Fragen zum digitalen Wandel beantworten, denn in der abgelaufenen Breitensportsaison hat der Verband seine Prozesse digitalisiert, auf eine App umgestellt und so manche Rätsel herbeigeführt. Eine ältere Dame steht vor einer Pinnwand und scannt mit dem Smartphone den aufgehängten QR-Code. Danach versucht sie die Anmeldung in der BDR-App, doch sie kommt nicht recht weiter. Nicht alles klappt auf Anhieb, aber die Herren des VfR Büttgen wissen ihr doch zu helfen und sie wird später auch auf der Runde unterwegs sein, mit Startnummer an der Jacke.

Routiniert: Marek Piekarsky (links) und Ulrich Philippi helfen den Teilnehmern mit Rat und Tat.Foto: Philipp HympendahlRoutiniert: Marek Piekarsky (links) und Ulrich Philippi helfen den Teilnehmern mit Rat und Tat.

Ulrich Philippi sitzt hier, obwohl er in den Monaten und Wochen und Tagen zuvor schon ziemlich viel geleistet hat für den gelungenen Samstagmorgen. Der Mann ist bald 84 und für die Streckenausschilderung zuständig. Die Erkenntnisse aus dem Vorjahr baut er ein, er hört von den anderen, was man ändern müsste, dann geht es in die Abstimmung mit Behörden. Letztlich fährt Philippi dann mit einem Vereinskameraden am Tag vor der RTF im Auto die Strecken ab, um Pfeile an Straßenschildern und Masten anzubringen. Das ist das Wesen der RTF: Man soll einfach nur den Ausschilderungen nachfahren und sich gewissermaßen ins gemachte Nest setzen, entdecken, was ein Verein zu bieten hat, und dann vielleicht auch irgendwie am organisierten Sport andocken.

Gegen das verstaubte Image

Leider ist mit manchen Pfeilen irgendetwas schiefgelaufen. Jedenfalls ist an der ersten Verpflegungsstation, am Schulgebäude in Rommerskirchen, der brotschmierende Jens Böhm schon informiert, ebenfalls einer der Umtriebigen im Verein. Er versucht herauszufinden, wo genau den Teilnehmern Schilder gefehlt haben könnten. Was gar nicht so einfach zu sagen ist, wenn sie sich auf verschiedenen Wegen zurück auf den richtigen Kurs begeben haben. Gut, dass es noch Papier gibt, auf dem die Route grob beschrieben ist – oder eben eine Strecke, die auf dem Rad-Computer hinterlegt ist.

Böhm leitet eine Grundschule und engagiert sich für den Sport, er hat sich schon im Vorjahr darum bemüht, den VfR und seine Herbst-RTF in neue Zielgruppen zu tragen – und eben diese neuen Zielgruppen auch nach Büttgen zu locken. Neben ihm steht Alexander Worgitzki, 37 Jahre alt. Er ist Mitglied im VfR, schmiert hier ebenfalls veganen Brotaufstrich und Hummus auf die Imbisse und damit auch ein wenig gegen das “verstaubte Image” an, das RTF eben haben. “Ich bin schon länger im VfR und wollte mich gern ehrenamtlich engagieren. So eine Station zu machen, das ist mal etwas anderes”, sagt er und zeigt dann einer Teilnehmerin, wo sie den Stempel für ihre Kontrollkarte findet. Nicht zu vergessen: Bei RTF sammeln Vereinssportler auch heutzutage noch ihre Strecken, inzwischen digital und kilometergetreu. Früher wurde auf Papier und mit Punkten abgerechnet.

Vegan: Jens Böhm (links) bringt zeitgemäßen Genuss und neue Ideen zur RTF.Foto: Philipp HympendahlVegan: Jens Böhm (links) bringt zeitgemäßen Genuss und neue Ideen zur RTF.

Gleich 15 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, alle in Grün, hat der Krefelder Radsportverein Staubwolke Fischeln nach Büttgen mitgebracht. Bei den niederrheinischen Nachbarn lassen die grün gekleideten Sportler ihre RTF-Saison ausklingen, danach gibt es noch Kaffee und Kuchen. Markus Besch, 57 Jahre alt, ist der Vorsitzende der Fischelner. Er steht an der veganen Verpflegung, umringt von seinen Vereinskameraden. Die sind zwischen Mitte 30 und Ende 70. Besch sagt, in seinem Klub gebe es viele Neueinsteiger, was schön sei. “Denn man merkt, dass es schwierig ist, Leute zu motivieren”, sagt der Vereinsfunktionär aus Krefeld. Eine RTF organisiert sein Verein nicht, ein Rennen schon. Die Teilnahme bei den Nachbarn in Büttgen gehört für die Krefelder zum Jahresablauf. “Man hat gemerkt, dass sie versuchen, das Ganze attraktiver zu machen”, erkennt er an, “man ist so ein bisschen ausgeblutet.”

Gut gelaunt: Das Team von Staubwolke Krefeld-Fischeln schließt seine Saison launig ab.Foto: Philipp HympendahlGut gelaunt: Das Team von Staubwolke Krefeld-Fischeln schließt seine Saison launig ab.

Gegen dieses Ausbluten tun sie viel in Büttgen. Sie haben nicht nur den veganen Brotaufstrich, das Brevet und die Social-Media-Arbeit im Angebot. Sie veranstalten auch Bahn-Probetraining im Anschluss an die RTF, bieten eine Gravel-RTF und einen Women’s Ride, geführt von Finja Smekal. Dennoch kommt neben den Bierbänken auch die Frage, ob es keinen Bratwurststand gibt. So etwas ärgert dann schon mal die Ehrenamtler, die hier herumwuseln. Der Radkulturabend, den sie am Freitag vor der RTF angeboten hatten, zog nicht und wurde kurzfristig abgesagt. Man versucht viel, nicht alles klappt. Aber immerhin: 650 Menschen haben die Organisatoren am Ende über alle Strecken des RTF-Tages gezählt.



Auch wenn niemand das Durchschnittsalter kennt, stimmt auf jeden Fall: Die Mehrheit davon sind alte, weiße Männer. Und das wird vermutlich auch im nächsten Herbst wieder so sein. Dass es dennoch weitergeht, dass neue Leute dazukommen in einer neuen Saison, daran arbeiten sie beim VfR Büttgen das ganze Jahr lang.

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