20. April 2020

Die »Selbstregierung« der Körper

Michelle Records, Gertrudenkirchhof 10, 20095 Hamburg

 

Von Michael Hopp

In der leeren U-Bahn würde ich am liebsten wohnen. Ich mache es mir allein im Waggon gemütlich – es lebe der exzessiv gelebte Sicherheitsabstand! – und lese in der Samstag-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung. Die SZ ist am Samstag immer noch besonders umfangreich, die Redakteure und Autoren müssen viel schreiben, um sie voll zu bekommen. Alles findet hier Platz, jeder nach seiner Facon. Die im strengen Ton vorgetragenen Belehrungen einer Carolin Emcke genauso wie die frömmelnden Betrachtungen des Heribert Prantl, die einem das Gefühl geben, es sei schon Sonntag und man drücke die Kirchenbank. Da ist für mich immer was dabei!

         Am Samstag schrieb Prantl, die Menschen verlören durch die Distanz-Gebote zunehmend den Halt. Sie hätten keinen Halt mehr, weil sie sich nicht mehr treffen und halten können, im Sinne von einander halten, umarmen. Hhhmmm. Ganz meine Meinung! Was ich dazu weiß: Babys sterben, wenn man sie nicht berührt.

         Mir fällt ein, dass ich zu meiner Freundin nie „Lass uns Sex haben“ oder Ähnliches (was wäre hier ähnlich?) gesagt habe, sondern immer: „Lass uns doch halten gehen.“ Das mag auf andere skurril wirken, für uns war es das nicht. Jetzt ist das alles vorbei, over. Aber all die Jahre, als es noch nicht vorbei war, war es eine 1-a-Fehlleistung. Die Seele hatte mir schon auf die Zunge gelegt, was ich so noch gar nicht hätte sagen können: dass Sex der Kern der Nähe ist und des Vertrauens und dass man immer wieder miteinander ins Bett geht, um die Nähe und das Vertrauen zu erneuern. Amen.

         Jetzt ist jemand zugestiegen, nimmt aber zielstrebig am anderen Ende des Waggons Platz. Auf der unteren Hälfte der Zeitungsseite schreibt eine Historikerin der Bundeswehruniversität München, dass Quarantäne kein Freiheitsentzug, sondern ein „Hochamt der Demokratie“ sei. Sie sei kein Ausdruck der Fremdbestimmung, sondern der Selbstbestimmung, der „Selbstregierung“ der Körper. Nur wenn diese Selbstbestimmung wahrgenommen wird, bleibt Gesundheit kein Privileg der Reichen. Wessen Körper schmerzt, der ist kein freier Mensch. Wer versklavt ist, wessen Körper willkürlich von anderen misshandelt werden kann, der ist kein Bürger, der vollständiger Besitzer seines Körpers ist. So blieb es lange Zeit unvorstellbar, dass Frauen, die nicht über ihren Körper herrschten, Staatsbürgerinnen werden könnten. So gesehen ist persönliche Hygiene ein Gebot der Emanzipation, abgeleitet aus dem Selbstbestimmungsrecht am eigenen Körper – das wieder Voraussetzung für Demokratie ist.

         Insofern käme ich diesem Hochamt also besser nach, wenn ich a) Maskenträger wäre und b) aufhören würde zu jammern, dass ich nicht ins Café, Kino, Jazzkonzert kann und zu keinem sofortigen Zungenkuss komme, sondern bzgl. dieser Forderungsliste demütig zur Kenntnis nähme, dass Milliarden Menschen auch ohne Corona ihr ganzes verdammtes Leben lang nicht ins Café, Kino oder Jazzkonzert können, Zungenkuss vielleicht schon, weil ihr Leben jeden Morgen aufs Neue in Schutt und Asche gelegt sein kann. Ich sitze gesund und wohlgenährt geräumig in der U-Bahn und fahre ins Plattengeschäft. Habe ich damit das Recht verwirkt zu klagen?

Hochamt, Amen ... over. Ich muss aussteigen.

         Hauptbahnhof. Ich will hier Zeitungen schauen gehen und danach gucken, ob „Michelle“ am Gertrudenhof schon offen hat, das neue Morrissey-Album holen und fragen, wann ich Platten zum Verkaufen bringen kann. Auf normal machen, sozusagen. Am Bahnsteig der U-Bahn fällt mir auf, hier kannst du die zwei Meter Abstand nicht einhalten. Frage an Moraltheologen: Ist der schutzbedürftige (Maskenträger?) dann berechtigt, den zu nahe kommenden Unhold aufs Geleis zu stoßen? 52 Prozent der Deutschen sagen: ja. Ist erfunden. Und schon wieder bin ich in diesen ätzend-destruktiven Tonfall zurückgefallen.

         Die Fußgängerzone gehört den Bettlern. Ich hatte mir am Bahnhof beim einzig offenen Bäcker ein belegtes Brötchen gekauft, eine Frau ruft: „Ich will auch was essen“ – mit Riesenhall in der ansonsten stummen Häuserschlucht. H&M, Zara, Douglas – alles finster und zu. Die Sachen im Schaufenster wirken wie aus einer anderen Zeit. Ich war gekommen, um hier an der Normalität zu schnüffeln, aber ehrlich gesagt, die riecht schon. Es drängt sich der Gedanke auf, wem würde etwas fehlen, wenn all die Scheißläden nie wieder aufmachen würden?

         Fest steht, der Innenstadt fehlen die einkaufenden Menschen, denn ohne das Gewimmel der Tütenträger offenbaren sich Mönckeberg- und Spitalerstraße in brutaler und hoffnungsloser Hässlichkeit. Als ich mir im Eisladen eine Kugel Vanille hole, traue ich mich nicht, mich zu den Bettlern zu setzen, und stehe wie ein Idiot am Glockengießerwall vor dem geschlossenen Nike-Laden, als wäre ich da verabredet.

         PS: Michelle war übrigens noch zu, macht erst Montag wieder auf. Die Tür war offen, das Sicherheitsgitter aber verschlossen. Ich schaue in den finsteren Laden. Ganz hinten drin ist Licht. Christoph schlurft hervor, ich erkenne sein schiefes Lächeln. Jetzt steht er hinter dem Eisengitter. „Ganz schön unheimlich hier, in der Innenstadt“, sage ich. „Wieso?“ „N aja ...“ „Ich bin das vielleicht schon gewohnt, bin jeden Tag da.“ „Wie läuft´s?“ „Gut.“ „Inwiefern gut?“ „Wir haben viel zu tun, und André liefert jetzt mit dem grünen Tucker-Tucker-Bus aus.“ „Toll.“ „Und wir haben es geschafft, in der Corona-Zeit jeden Tag ein Konzert zu spielen.“ „Toll“, sage ich noch mal und verabrede mich für die kommende Woche, wenn der Laden wirklich wieder offen hat. Später daheim finde ich den Facebook-Eintrag: „Good news: On Monday, the 20th of April Michelle Records will open tot he public again. The bad news: This ist the last part of our concert series.“

 

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