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Stefan Schultz

Vermurkster Systemwechsel 100 Dinge, die bei der CO₂-Wende schieflaufen

Stefan Schultz
Eine Mängelliste von Stefan Schultz
Erst wollte die GroKo bis Ende 2020 die Ökostromziele erhöhen, dann bis Ende März. Beide Male scheiterte sie. Auch sonst läuft reichlich viel schief auf dem Weg in die Klimaneutralität. 100 Beispiele.
Bundesminister Peter Altmaier – heute Wirtschaftsminister, im Bild noch Umweltminister – zählt seit mindestens einem Jahrzehnt zu den prägenden Politikern der CO2-Wende

Bundesminister Peter Altmaier – heute Wirtschaftsminister, im Bild noch Umweltminister – zählt seit mindestens einem Jahrzehnt zu den prägenden Politikern der CO2-Wende

Foto:

Marcus Brandt/ dpa

Es lief schon die Verlängerung, doch selbst das hat nicht gereicht: Eigentlich wollten sich Union und SPD bis spätestens Ende März auf höhere Ausbauziele für Ökostromanlagen in Deutschland einigen. Doch die Verhandlungen waren zäh.

Ende Februar warfen sich die Koalitionspartner gegenseitig »Substanzlosigkeit« vor; Mitte März ließen die Sozialdemokraten die Verhandlungen platzen  – weil mit dem Abgeordneten Joachim Pfeiffer nun schon der zweite CDU-Energiepolitiker, mit dem sie regelmäßig verhandeln, unter Lobbyistenverdacht steht.

Die Deadline für eine zentrale energiepolitische Weichenstellung wurde damit zum zweiten Mal gerissen. Eigentlich sollten die höheren Ausbauziele schon Ende 2020 beschlossen gewesen sein, zur Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. Weil die Debatte aber schon damals hakte, steht in Deutschlands zentralem Ökostromgesetz nichts über Deutschlands Ökostromziele. Die GroKo beteuerte , das bis Ende März nachzuholen. Doch daraus wurde nichts. Wie es nun weitergeht, weiß keiner.

Für sich genommen, wäre das nicht so wild. Es mag peinlich sein; aber so was kommt vor. Das Problem ist nur, dass solche Ausfälle bei der Ökowende eher die Regel sind: Es kommt viel zu oft zu Verzögerungen und Blockaden, und wenn die sich irgendwann auflösen, kommen viel zu oft zaghafte, unausgegorene Kompromisse heraus.

Natürlich macht die Regierung nicht alles schlecht. Sie hat einen – wenn auch niedrigen – nationalen CO2-Preis eingeführt. Und sie hat ein Gesetz verabschiedet, das verschiedene gesellschaftliche Sektoren Jahr für Jahr zu verbindlichen CO2-Einsparungen zwingt. Das sind wichtige Schritte in Richtung Ökorepublik. Doch auch sie kommen reichlich spät. Deutschland ist in Sachen Klimaschutz längst nicht mehr Pionier. Länder wie Norwegen, Schweden oder die Niederlande sind uns inzwischen weit voraus.

»Wie ein Uhrwerk, bei dem man alte Teile zu spät repariert oder mit neuen, schlecht zugeschnittenen ersetzt«

Der angepeilte Systemwechsel ist gar nicht so kompliziert. Im Kern soll sich etwas am Input ändern: Die Energiezufuhr soll von fossil auf grün umgestellt werden. Die Regierung soll diesen Übergang möglichst flüssig gestalten – und möglichst schnell voranbringen. Und sie soll dafür sorgen, dass das neue grüne System dieselben Kernfunktionen erfüllt wie das alte fossile: Deutschlands Energieversorgung soll sicher und bezahlbar bleiben.

Doch dieser Wandel läuft an immer mehr Stellen unrund. Es ist wie bei einem Uhrwerk, bei dem man alte Teile zu spät repariert oder mit neuen, schlecht zugeschnittenen ersetzt – was dann auch an anderen Stellen zu Problemen führt. Nur dass das Uhrwerk die Basis für Deutschlands wirtschaftliche, technologische und gesellschaftliche Zukunft ist.

Mittlerweile knirscht und knackt es in diesem System an vielen Stellen. Die Zahl der ungetroffenen Entscheidungen und ungelösten Probleme ist so groß, dass man locker eine Mängelliste mit 100 Punkten zusammenbekommt – ohne Dinge künstlich schlechtzureden oder in Mikrokritik zu verfallen.

Ein solcher Problemkatalog ist zwangsläufig subjektiv. Für manche darin aufgeführten Punkte mag es aus anderen Perspektiven schlüssige Gründe geben, sie nicht umzusetzen. Generell lassen sich viele Aspekte anders bewerten, je nachdem wie man zum Klimaschutz, zum Verhältnis von Staat und Markt und zu vielen anderen Themen steht. Hier unsere subjektive Liste.

I. Reduktion der fossilen Energie

Braunkohletagebau Garzweiler

Braunkohletagebau Garzweiler

Foto:

SASCHA STEINBACH / EPA

Kohleausstieg

1) Der deutsche Kohleausstieg wurde zu spät eingeleitet. Angeregt hatte ihn der Sachverständigenrat für Umweltfragen erstmals 2009 . Spätestens 2014 wurden entsprechende Forderungen der Umweltbewegung laut . Beschlossen wurde der Ausstieg im Sommer 2020 .

2) Der Ausstieg dauert zu lange. Laut Gesetz  soll 2035 bis 2038 Schluss sein. Um die Pariser Klimaziele zu erreichen, wäre laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung und zahlreichen anderen Forschern ein Ende bis 2030 nötig .

3) Die Regierung hat sich bei ihrem Gesetz über den gesamtgesellschaftlichen Konsens hinweggesetzt, den eine von ihr eingesetzte Kommission über anderthalb Jahre hinweg mühsam erarbeitet hatte. Laut Abschlussbericht der Kommission sollten die Kohlemeiler nach und nach möglichst gleichmäßig abgeschaltet werden. Laut Gesetz der Bundesregierung sollen nun Ende der Zwanzigerjahre und Mitte der Dreißigerjahre je eine große Zahl Kraftwerke im Block abgeschaltet werden. Der CO2-Ausstoß würde dadurch unnötig steigen.

4) Der Kohleausstieg ist insgesamt zu teuer geraten. Allein die betroffenen Regionen bekommen rund 40 Milliarden Euro. Die Große Koalition hat gesellschaftliche Widerstände mit Milliarden Euro beseitigt. Sie hätte das Geld besser in die klimaneutrale Zukunft investiert.

5) Die Energiekonzerne bekommen 4,35 Milliarden Euro Entschädigung für Kraftwerke, die durch den Wandel am Strommarkt ohnehin unrentabel geworden wären. Die EU-Kommission prüft zu Recht, ob das unzulässige Subventionen sind.

6) Die Braunkohlefirma Leag soll davon 1,75 Milliarden Euro erhalten – für die Renaturierung von Kohlegruben, die wahrscheinlich nie aufgemacht werden. Auch das prüft die Kommission zu Recht.

7) Die Entschädigungen für die Konzerne wurden hinter verschlossener Tür ausgehandelt, Rechenwege nicht transparent gemacht . Das schadet dem gesellschaftlichen Konsens.

8) Die EU-Kommission wurde bei ihren Ermittlungen zunächst behindert: Deutschland habe erst keine Informationen für einzelne Anlagen vorgelegt, schreibt  sie. Das zuständige Ministerium weist zwar jede Schuld von sich. Doch allein der Streit ist für ein Land, das eine besondere Vorbildfunktion für die EU hat, äußerst traurig.

9) Die Entscheidung, fünf Dörfer im Rheinischen Revier wegen des Kohletagebaus umzusiedeln, läuft ebenfalls teils intransparent. Das Wirtschaftsministerium hat rund ein Jahr ein Gutachten nicht veröffentlicht, laut dem die Dörfer womöglich nicht umgesiedelt werden müssten. Anfangs wurde die Existenz des Gutachtens auf Anfragen von Abgeordneten gar nicht erwähnt.

CO2-Abscheidung und Speicherung

10) Die Abspaltung von CO2 während der Emission und dessen Lagerung in Senken wird in Deutschland kaum verfolgt. Die Politik drückt sich um das unbeliebte Thema. Dabei könnte das CO2 übergangsweise zur Herstellung von sogenanntem blauen Wasserstoff  genutzt werden – und die Emanzipation ganzer Industrien von fossilen Brennstoffen beschleunigen.

Autoindustrie

11) Bei der Reduktion klimaschädlicher Autoabgase stellt sich Kanzlerin Merkel seit vielen Jahren schützend vor die deutsche Autoindustrie , anstatt die CO2-Reduktion konsequent voranzubringen.

12) Selbst in der Dieselaffäre – die der Umgehung gesetzlicher Grenzwerte für Autoabgase diente – scheint der Regierung teils mehr am Schutz der Konzerne zu liegen als an der Aufklärung ihrer Betrugsmaschen.

13) Die Planungen für einen nachhaltigen Stadtverkehr sind so lückenhaft , dass selbst der Europäische Rechnungshof Deutschland inzwischen dafür rüffelt.

14) Die Regierung sträubt sich gegen ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen. Dabei mehren sich die Anzeichen, dass Stickoxidemissionen ab 130 Kilometern pro Stunde rasant steigen .

Wärmesektor

15) Der Wärmesektor hat seine Klimaschutzziele 2020 verfehlt, weil Gebäudesanierung seit vielen Jahren unter Plan liegt.

16) Die staatliche Förderung für die Sanierung ist laut einer Analyse des IW Köln  zu kompliziert. Neben der staatlichen Förderbank KfW und dem Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle gibt es noch viele weitere Fördertöpfe auf Länder- und Kommunalebene.

17) Beratungshilfen , die Bürgerinnen und Bürgern durch den Förderdschungel halfen, wurden erst spät eingeführt und nur langsam ausgebaut.

18) Ein zentraler Baustein der Wärmewende wird von Union und SPD seit Monaten verschleppt: Vermieter sollen an den Kosten für die CO2-Abgabe beteiligt werden, damit der Anreiz für eine Sanierung steigt und Mieter entlastet werden. Wirtschafts- und Umweltministerium haben sich in diesem Punkt bis heute nicht geeinigt.

II. Steigerung der klimaneutralen Energie

Windräder in Niedersachsen

Windräder in Niedersachsen

Foto:

Ingo Wagner / DPA

19) Die Regierung schätzt Deutschlands Bedarf an Ökostrom laut Bundesrechnungshof zu niedrig ein. Es droht eine Unterversorgung in Höhe von bis zu 4,5 Gigawatt.

20) Das Wissen der Regierung zum Energiesystem ist zudem offenbar lückenhaft. Laut Rechnungshof müsste das Wirtschaftsministerium dringend einen sogenannten Stresstest durchführen, um herauszufinden, ob die Versorgung auch in Extremsituationen sicher wäre. Eine ziemlich riskante Wissenslücke.

21) Wegen der optimistischen Prognosen sind die Ausbauziele für erneuerbare Energien zu niedrig. Auf höhere Ziele können sich Union und SPD, wie eingangs erwähnt, seit Monaten nicht einigen.

22) Der Ausbau läuft obendrein seit Jahren zu langsam – was an zahlreichen Steuerungsfehlern in den einzelnen Sparten liegt.

Solarenergie

23) Der Ausbau der Solarenergie war lange bei 52 Gigawatt gedeckelt, obwohl der Bedarf weit größer ist. Statt den Deckel einfach aufzuheben, nutzte die Union ihn in Verhandlungen mit der SPD lange als Faustpfand – so lange, bis erste Solarprojekte keine Kredite mehr bekamen.

24) Die Ausbauziele für Solarenergie sind viel zu niedrig. Vorgesehen ist derzeit eine Steigerung um 2,5 Gigawatt pro Jahr ; das Umweltbundesamt hält mehr als das Doppelte  für nötig.

25) Die Besitzer von Solaranlagen mit einer Leistung von mehr als 30.000 Kilowattstunden müssen einen ermäßigten Satz der EEG-Umlage zahlen, wenn sie ihren Strom selbst verbrauchen. Das ist so, als würde man selbst Tomaten züchten und darauf dann Umsatzsteuer zahlen.

26) Wer seinen Solarstrom an sein Umfeld verkauft, zum Beispiel an Nachbarn, muss sogar die volle EEG-Umlage zahlen und ...

27) ... sich teure Messtechnik installieren.

28) Beides macht lokale Anwendungen von Solarenergie künstlich unattraktiv – obwohl das den Ausbau ankurbeln und die Stromnetze entlasten würde.

29) Die deutsche Solarindustrie hat dank des technologischen Fortschritts derzeit Chancen auf ein Comeback – aber nur, wenn sie industriepolitische Unterstützung bekommt. Die aber wird ihr bislang weitgehend versagt.

Windkraft

30) Die Ausbauziele für Windenergie sind ebenfalls zu niedrig. Bis 2030 sind momentan 71 Gigawatt installierte Leistung vorgesehen. Das Umweltministerium hält bis zu 95 Gigawatt  für nötig.

31) Der Ausbau der Windenergie lag in den vergangenen drei Jahren weit unter Plan. Die Regierung unternahm wenig, um ihn anzukurbeln. Im Gegenteil.

32) Neue Windräder müssen seit 2020 mindestens 1000 Meter weit weg von Wohngebäuden gebaut werden – es sei denn, die Bundesländer legen explizit geringere Abstände fest. Die verfügbaren Flächen für neue Windparks schrumpfen dadurch.

33) Das Haupthemmnis des Ausbaus, die ausufernde Bürokratie, wird seit Jahren nicht beschnitten. Pla­nungs­ver­bän­de sind ver­pflich­tet, je­den Ein­wand von Anwoh­nern zu prü­fen, zu be­wer­ten und ihre Ab­wä­gun­gen lü­cken­los zu do­ku­men­tie­ren. Ma­chen sie ei­nen Feh­ler, kann der ge­sam­te Re­gio­nal­plan vor Ge­richt gekippt wer­den. Die Bürokraten flüchten sich deshalb in immer neue Gutachten – was den Ausbau um Jahre verzögert.

34) Eine Zweckentfremdung dieser perfektionistischen Planungsregeln wird klaglos hingenommen. Die Anti-Wind­kraft-Be­we­gung schüttet Be­hör­den mit Stel­lung­nah­men teilweise zu. Bei ei­ner Re­gio­nal­pla­nung in Süd­hes­sen gingen gut 25.000 ein. Sie mussten alle geprüft werden, egal wie absurd sie waren.

35) Wichtige Daten zum Artenschutz, die Verfahren beschleunigen könnten, werden indes nur lückenhaft erhoben. Die letzten Daten zu Populationen des Rotmilan stammen zum Beispiel aus dem Jahr 2016. Dabei wird dieser von Windkraftgegnern besonders oft als Gegenargument genutzt.

36) Reformen zum Bürokratieabbau laufen nur schleppend, vor allem beim Artenschutz, wo viele Regelungen landes- oder bundesweit vereinheitlicht werden könnten.

37) Bei Ausschreibungen neuer Windparks wurden zunächst Bürgerinitiativen gegenüber erfahrenen Projektierern bevorzugt. Das sollte die Akzeptanz steigern, führte aber vor allem dazu, dass viele Projekte aus Kompetenzmangel scheiterten.

38) Der Bau neuer Windräder wird durch all diese Steuerungsfehler verteuert und...

39) ...raubt Parkbetreibern die Planungssicherheit.

40) Die Basis für eine vielversprechende Zukunftsindustrie wurde bereits in Teilen zerstört. Zehntausende Jobs sind weggefallen, Dutzende Unternehmen insolvent gegangen. Verbessert wurde das System bislang trotzdem kaum.

Offshore-Windkraft

41) Der Ausbau der Offshore-Windenergie geht ebenfalls zu langsam voran. Laut den Planungen des Bundesamts für Seeschifffahrt und Hydrographie  werden die meisten geplanten Anlagen erst 2028 bis 2030 in Betrieb gehen. Dabei könnte Deutschland ihren Strom besonders gut gebrauchen. Denn er ist an deutlich mehr Stunden des Jahres verfügbar als Solar- und Onshore-Windstrom.

42) Statt den Ausbau anzukurbeln, wollte Wirtschaftsminister Peter Altmaier ihn zeitweise sogar erschweren. Die Erbauer neuer Parks sollten bei Ausschreibungen unter bestimmten Umständen Geld dafür bieten müssen, um den Zuschlag zu bekommen. Altmaier verwarf diese Schnapsidee schließlich.

43) Gegen ein viel sinnvolleres Fördermodell indes, das es unter anderem in Dänemark, Großbritannien, Frankreich, Polen und Italien gibt, sperrt sich der Minister: Unternehmen legen dort bei Auktionen einen fixen Preis fest, zu dem sie den Strom ihres neuen Windparks verkaufen wollen. Liegt der Marktpreis später darunter, zahlt der Staat die Differenz. Liegt der Marktpreis über dem Fixpreis, gibt der Anlagenbetreiber die Einnahmen an den Staat ab. Unternehmen bekommen also nur noch zeitweise eine Förderung – können sich aber über einen langen Zeitraum sicher sein, dass ihr Windpark sich rechnet. Warum Deutschland dieses clevere Werkzeug nicht nutzt, ist schleierhaft.

44) Die Netzanschlüsse für Offshore-Windparks sind unnötig teuer. Während in Großbritannien der Anschluss einer Megawattstunde Offshore-Windstrom im Schnitt 16 Euro kostet, fallen in Deutschland 35 Euro an. Hauptgrund ist laut einer Studie  der Beratungsfirma DIW Econ, dass sich hierzulande nicht die Windparkbauer selbst um den Anschluss kümmern – sondern die Übertragungsnetzbetreiber, die untereinander nicht in Konkurrenz stehen und sich daher keine Mühe geben müssen, die Kosten zu drücken.

Wasserstoff

45) Neben Ökostrom ist mit Ökostrom hergestellter Wasserstoff der zweite zentrale Baustein der CO2-Wende. Er ermöglicht unter anderem CO2-freies Heizen und Fliegen und eine klimaneutrale Industrie. Auch hier sind Länder wie Dänemark, die Niederlande oder Japan weiter als die Bundesrepublik – obwohl die Technologie hierzulande mit erfunden wurde. Immerhin: Die Regierung versucht in diesem Punkt, gerade kräftig aufzuholen.

46) Eine heimische Produktion – und damit der Aufbau einer exportfähigen Zukunftsindustrie – kann sich allerdings nur dann entwickeln, wenn die Ökostromproduktion steigt. Die Herstellung von grünem Wasserstoff erfordert schließlich zusätzlich Strom. Doch der Ausbau der erneuerbaren Energien stockt, wie schon erwähnt, gewaltig.

47) Die Herstellung von Wasserstoff wird zudem derzeit unnötig verteuert. Betreiber von Elektrolyseuren zahlen Abgaben für den genutzten Strom: EEG-Umlage, Netzentgelte, Stromsteuer – obwohl sie selbst bloß Energie umwandeln.

48) Der Hochlauf des neuen Marktes könnte schneller gehen, wenn die heimische Nachfrage nach Wasserstoff steigt. Experten empfehlen dazu verpflichtende Beimischungsquoten im Luftverkehr und Erdgasnetz. Die aber fehlen in der nationalen Wasserstoffstrategie bis jetzt.

Elektromobilität

49) Der Austausch von Benzinern durch E-Autos wurde viele Jahre verschleppt. 2008 war von einer Million Elektroautos bis 2020 die Rede. Bis heute fahren deutlich weniger auf deutschen Straßen. Dafür lautet das Ziel für 2030 nun: sieben bis zehn Millionen E-Autos. Immerhin: Nach einem verlorenen Jahrzehnt fördert die Regierung E-Autos inzwischen konsequent, und die Neuzulassungen für Stromer steigen.

50) Beim Aufbau der Infrastruktur indes herrscht noch immer Chaos. 2362 Firmen  betrieben laut Wirtschaftsministerium im Februar öffentliche Ladestationen, wie viele Auflade-Apps es gibt, weiß das Ministerium nicht einmal. Standards, die garantieren, dass jeder überall Strom nachtanken kann, fehlen weitgehend.

51) Elektroautofahrer müssen daher oft auf sogenanntes Roaming zurückgreifen. Ihr Stromanbieter darf dann die Säulen anderer Firmen nutzen – meist gegen Aufschlag. Das macht die E-Mobilität unnötig teuer und unattraktiv.

52) Regelrecht absurd ist, dass man an vielen Säulen während des Ladevorgangs nicht ablesen kann , wie teuer das Stromtanken wird. Bei Benzin oder Diesel wäre so etwas unvorstellbar.

53) Ebenso verbraucherunfreundlich ist, dass nicht zentral erfasst ist, an wie vielen Ladepunkten per EC- oder Kreditkarte gezahlt werden kann .

54) Eine Überarbeitung der Ladesäulenverordnung , die viele dieser Probleme angehen soll, verzögert sich seit letztem Sommer. Inzwischen ist sie für Mitte 2021 eingeplant.

Verkehrswende

55) Der Umstieg auf E-Autos ist nur die halbe Miete. Noch klimafreundlicher wäre es, den Besitz eigener Pkw komplett überflüssig zu machen. Im deutschen Verkehrswendekonzept hat dieser Punkt nicht die Priorität, die er verdient. Das zeigt sich in vielen einzelnen Maßnahmen.

56) Die Preise im öffentlichen Personennahverkehr etwa sind von 2000 bis 2018 um fast 79 Prozent gestiegen , die für den Kauf und die Unterhaltung von Kraftfahrzeugen dagegen nur um gut 36 Prozent.

57) Der Ausbau von Radschnellwegen läuft quälend langsam, trotz üppiger Förderung. Das liegt vor allem am bürokratischen Klein-Klein. So bearbeiten unter anderem verschiedene Behörden einzelne Teilabschnitte der neuen Radwege.

58) Bis 2030 soll ein Viertel der Güter per Schiene transportiert werden, doch 2020 sank der Marktanteil von 19 auf 17,5 Prozent. Der Anteil des Straßengüterverkehrs stieg dagegen leicht.

59) Die aktuellen Pläne zur Dekarbonisierung der Luftfahrt wirken unambitioniert. Zwar gibt es neuerdings eine Beimischungsquote für CO2-freie Kraftstoffe. Doch die liegt bei lächerlichen zwei Prozent ab 2030 .

III. Systemwechsel insgesamt

Strommasten im Kreis Soest

Strommasten im Kreis Soest

Foto: Julian Stratenschulte/ dpa

60) Das Management der fossilen und grünen Energien hat nicht nur für sich genommen je zig Probleme; auch beim derzeit noch nötigen Zusammenspiel der beiden Energieträger hakt es gehörig. Die Systeme stören sich gegenseitig oft mehr, als dass sie sich ergänzen.

Verwaltung

61) Ein Grund dafür ist, dass es kein gestaltungsstarkes Energieministerium gibt, sondern im Kern drei Machtpole: das Kanzleramt, das Umwelt- und das Wirtschaftsministerium. Bei der Mobilität kommt noch das Verkehrsministerium dazu, im Wärmesektor noch das Bauressort.

62) Die Zusammenarbeit zwischen den Häusern läuft oft nach einem wenig produktiven Muster ab: Das Umweltministerium prescht mit Maximalforderungen vor. Das Wirtschaftsministerium warnt vor Jobverlusten. Und das Kanzleramt drückt sich vor Entscheidungen.

63) Das Wirtschaftsministerium, das im Stromsektor besonders viel Verantwortung hat, flüchtet sich laut Bundesrechnungshof  zudem ins Vage. Es habe bisher nicht einmal definiert, was es unter einer preisgünstigen und effizienten Versorgung mit Elektrizität verstehe, schreibt die Prüfbehörde. Dabei wäre das doch die absolute Grundlage für eine zusammenhängende Strategie.

Stromnetze

64) Die zentrale Infrastruktur, die die alte und neue Energiewelt zusammenführt, ist oft überlastet. Es bräuchte mehr Leitungen, doch der Ausbau hinkt seit Jahren den Zielen hinterher. Etwa 7700 Kilometer neue Leitungen sollen momentan gebaut werden, rund 1500 sind erst fertig . Dabei steigt der Bedarf durch Elektromobilität und Wasserstoff derzeit sogar noch.

65) Der Ausbau lahmt vor allem, weil Bürger den Bau der Leitungen bekämpfen. Mit diesen müsste der Staat viel stärker in den Dialog treten.

66) Der Leitungsbedarf wäre womöglich geringer, wenn man ihn stärker mit der Standortvergabe für künftige Ökostromanlagen zusammen denkt. Entsprechende Bemühungen sind aber kaum zu erkennen.

67) Momentan kommt es immer wieder zu Engpässen in den Netzen. Ökostromanlagen werden dann teils abgeregelt und produzieren weniger Elektrizität. Das ist unökologisch...

68) ...und unökonomisch. Denn die Ökostromanlagen müssen für ihre Verdienstausfälle entschädigt werden. 2020 kostete das rund 1,3 Milliarden Euro, die Verbrauchern auf ihre Stromrechnung draufgeschlagen werden.

69) Ein weiteres Problem sind mangelnde Austauschkapazitäten mit anderen Ländern. Die sogenannten Grenzkuppelstellen müssten laut Bundesrechnungshof stärker ausgebaut werden. Sonst sinke die Versorgungssicherheit.

Smart Grids

Sogenannte Smart Meter sollten den Verbrauch eines jeden Haushalts im Minutentakt messen – und in ebenso kurzen Zeitabständen übermittelt bekommen, wie viel Strom gerade in den Netzen verfügbar ist. Die Haushalte sollten dadurch von den schwankenden Preisen an der Strombörse profitieren: Wenn ein Stromüberangebot herrscht, zum Beispiel, weil viele Wind- und Solaranlagen gerade auf Hochtouren arbeiten, würden die Preise für Endkunden sinken; bei einer Unterversorgung steigen. Endkunden sollen ihren Stromverbrauch entsprechend anpassen, in stromreichen Stunden Waschmaschine, Trockner und Spülmaschine anschalten oder ihr Elektroauto laden. Letztlich sollen die Systeme solche Anlagen automatisch steuern.

70) Das Thema Smart Meter ist eine einzige Geschichte der Verzögerungen. Das Konzept wurde erstmals 2007 in einem Papier des damaligen Wirtschaftsministers Michael Glos (CSU) erwähnt. Der verpflichtende Rollout startete 2020 .

71) Diesen März stoppte  das Oberverwaltungsgericht Münster ihn in Teilen wieder, weil das zuständige Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik Zähler zertifiziert hatte, die nicht den gesetzlichen Anforderungen entsprechen. Die Behörde habe »ihre Kompetenzen überschritten«, so das Urteil.

72) Das Problem, das das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik  (BSI) nicht gelöst hat, ist seit 2014 bekannt: Das BSI soll sicherstellen, dass jeder intelligente Stromzähler mit jedem Stromversorger kommunizieren kann. Das BSI bekam das nicht hin – und änderte letztlich eigenmächtig eine technische Richtlinie ab.

73) Schon 2014 häufte sich Kritik, dass das BSI mit den Smart Metern überfordert sei. Laut internen Protokollen schwänzten BSI-Mitarbeiter damals teils sogar Sitzungen von Arbeitsgruppen mit Herstellern, Verbänden und Regierungsvertretern, angeblich aus Personalmangel. Das Wirtschaftsministerium ließ die Behörde trotzdem so weitermachen.

74) Die 2020 zugelassenen »schlauen« Zähler waren in der Folge zunächst zu dumm, um mit handelsüblichen Ladestationen für E-Autos zu kommunizieren – obwohl genau das eine ihrer Aufgaben ist.

75) Der rechtliche Rahmen zum Einsatz der Smart Meter ist ebenfalls im Verzug. Laut einer Analyse des Beratungshauses EY  von 2019 ist noch weitgehend ungeregelt, wie die Geräte eingesetzt und betrieben werden. Bis heute hat sich daran nicht viel geändert.

76) Dem Energiesystem der Zukunft fehlt dadurch eine zentrale Komponente: Die Zähler sollen eigentlich die Versorgung stabilisieren, die immer stärker von schwankenden erneuerbaren Energiequellen abhängt. Sie sollen den Verbrauch in Zeiten verschieben, in denen es viel Ökostrom gibt. Dieser Steuermechanismus fällt bisher komplett aus.

Speicher

77) Ein weiterer verspäteter Baustein der Energiewende sind die Speicher. Auch sie müssten in größeren Mengen verfügbar gemacht werden, um die Stromversorgung durch schwankende erneuerbare Energiequellen abzupuffern. Doch auch hier gibt es bisher nur recht allgemeine Betrachtungen  der Regierung.

78) Erste Experten, wie Harald Schwarz von der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus, warnen , dass Deutschland nach Vollendung des Atomausstiegs im Dezember 2022 nicht ausreichend vor sogenannten Dunkelflauten geschützt sei. Es brauche vielleicht im Januar des Jahres 2023 nur eine Weile eiskalt und grau zu sein, ohne Sonne und Wind, und es könnte im System eng werden.

Strommarkt

79) Auf dem Strommarkt wurden ebenfalls wichtige Reformen vertändelt. Kleine Marktteilnehmer wie Besitzer von Solaranlagen oder Elektroautos bleiben vom Markt bisher weitgehend abgeschottet .

80) Ebenso fehlen im Markt weitgehend preisliche Anreize, um Strom verstärkt dann zu verbrauchen, wenn er gerade in Massen verfügbar ist.

81) Beides verzögert den Einstieg in einen dezentralen Strommarkt, in dem viele Verbraucher gleichzeitig Produzenten sind (»Prosumer«). Dabei ist genau dieses Marktmodell das Ziel, wenn die Versorgung über zentrale Großkraftwerke zurückgeht.

Strompreise

82) Die vielen Ungereimtheiten haben die deutsche Energiewende auch teuer gemacht. Die Deutschen zahlen mittlerweile weltweit fast die höchsten Strompreise.

83) Hauptgrund ist ein Wust aus staatlich geregelten Bestandteilen wie Umlagen, Steuern und Netzentgelten, die rund 75 Prozent der Strompreise ausmachen .

84) Der Staatsanteil ist allerdings nicht für alle gleich hoch. Haushalte und kleinere Firmen müssen ihn meist komplett zahlen, während die Industrie zahlreiche Privilegien genießt. Viele energieintensive Firmen zahlen weniger Umlage zur Förderung von Ökostrom (EEG-Umlage), ...

85) ... weniger Netzgebühren, ...

86) ..., erhalten mitunter Ermäßigungen auf die Umlage zur Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung und ...

87) ... werden teils auch bei der Umlage zum Ausbau der Offshore-Windenergie entlastet.

88) Insgesamt sparen die größten Stromschlucker so jedes Jahr Milliarden, während kleine Verbraucher voll zur Kasse gebeten werden. Die Energiewende wird dadurch tendenziell ungerecht.

89) Und sie wird in Teilen auch unsozial: Denn Hunderttausende ärmere Verbraucher können sich die hohen Strompreise teils nicht mehr leisten. Ihnen wird regelmäßig der Strom abgeklemmt. Die EU will Daten sammeln, um das Problem genauer zu analysieren und gezielt anzugehen. Das Wirtschaftsministerium sperrt sich dagegen – mit der Begründung, man bekämpfe Armut lieber ganzheitlich. Wieso das gegen genauere Daten über Energiearmut spricht, erschließt sich nicht.

90) All diese Probleme sind seit Jahren bekannt. Trotzdem geht der Staat sie erst jetzt an. Die GroKo diskutiert inzwischen erste Ideen, wie man die EEG-Umlage abschaffen kann. Laut Verhandlungsteilnehmern steht man dabei aber noch am Anfang.

91) Eine Aussicht auf schnelle Besserung gibt es deshalb nicht. »Mit dem derzeitigen System der staatlich geregelten Preisbestandteile werden die ohnehin hohen Strompreise weiter ansteigen«, schreibt der Bundesrechnungshof.

92) Das mindere die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands, ...

93) ... und schade der Akzeptanz der Energiewende.

Kultur

94) Kulturell könnte die Regierung ebenfalls mehr tun, um die Bürgerinnen und Bürger mitzunehmen. Ihre Kommunikationsstrategie besteht vor allem aus allgemein gehaltenen Informationskampagnen per Großplakat, Website oder Newsletter. Hilfreicher wären aus Sicht von Experten lokale und gut vernetzte Energieagenturen, die Verbrauchern vor Ort passgenaue Lösungen anbieten.

95) Ebenfalls hilfreich wäre es gewesen, sich früh für Transparenz auf dem Ökostrommarkt einzusetzen. Versorger können ihren CO2-Ausstoß seit Jahren über die sogenannte Stromkennzeichnung künstlich kleinrechnen. Ein Gesetzentwurf , der das Problem beheben soll, wurde erst vor Kurzem vorgestellt.

Fazit

Aktion von Umweltschützern vor dem Brandenburger Tor (2011)

Aktion von Umweltschützern vor dem Brandenburger Tor (2011)

Foto: Maurizio Gambarini/ dpa

Fügt man all diese kleinen und großen Versäumnisse, Planungsprobleme und Steuerungsfehler zusammen, ergibt sich eine bedenkliche Bilanz. Natürlich kann man die Reformen im Energiesystem nicht losgelöst von anderen Gesellschaftsbereichen betrachten. Die Energiewende ist nur eines von vielen politischen Reformprojekten, und sie hat in Abwägung zu anderen Bereichen freilich nicht immer oberste Priorität.

Der Kohleausstieg zum Beispiel ist auch deshalb teuer erkauft, weil die Regierung verhindern will, dass etwa radikale Parteien das Thema für sich ausschlachten. Und dass in Deutschland kein CO2 abgeschieden wird, liegt auch an der starken Aversion der Bevölkerung. Natürlich muss die Politik solche Querverbindungen mit abwägen – und im Zweifel andere Bereiche priorisieren. Die Häufung der Missstände deutet aber darauf hin, dass solche Abwägungen nicht der zentrale Grund für den traurigen Zustand der CO2-Wende sind.

Hinzu kommt, dass auch in anderen Bereichen kräftig gemurkst wird – und dass dieser Murks die deutsche Ökowende zusätzlich erschwert. Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang bei der verschleppten Digitalisierung: Sie dürfte ein wichtiger Grund für die verkorkste Einführung der Smart Meter sein.

Insgesamt ergibt sich deshalb folgendes Fazit:

96) Das deutsche Energiesystem wirkt derzeit eher wie ein Flickenteppich aus oft inkompatiblen Versatzstücken, nicht wie ein neues, stabiles Gesamtsystem. Alle übergeordneten Ziele scheinen inzwischen gefährdet zu sein.

97) Es ist nicht klar, ob Deutschland seine Stromversorgung in ein paar Jahren noch eigenständig gewährleisten kann.

98) Sollte die Versorgung irgendwann wirklich gefährdet sein, müsste die zuständige Bundesnetzagentur die geplante Abschaltung von Kohlekraftwerken verbieten. Das würde den deutschen Kohleausstieg bremsen und die deutschen Klimaziele gefährden.

99) Die Transformation in Richtung einer CO2-ärmeren Gesellschaft gerät zudem offenbar auf vielen Ebenen teurer als nötig. Es scheint, als würden viele gesellschaftliche Konflikte mit Geld zugeschüttet – das bald vielleicht an anderen Stellen fehlt. Der Bundesverband der Deutschen Industrie rechnet damit, dass der Übergang zur Ökorepublik bis Mitte des Jahrhunderts weitere 1,5 bis 2,3 Billionen Euro kosten wird. Selbst ein reicher Staat wie Deutschland kann es sich nicht leisten, das alles nach dem Prinzip Gießkanne zu regeln.

100) Das Hauptproblem, schließlich, ist, dass die Politik all das Genannte offenbar wissentlich in Kauf nimmt. Denn Warnungen vor all diesen Problemen gab und gibt es genug. Kay Scheller, der Präsident des Bundesrechnungshofs, findet das mittlerweile nur noch »ernüchternd«.