Das ist jetzt für viele politische Kommentatoren eine völlig neue Situation. Soll man Pietät wahren und die Privatsphäre der Angehörigen respektieren? Oder soll man, wie das in skrupellosen Boulevardmedien üblich ist, den Sterbeprozess aktiv mit immer neuen schrecklichen Details updaten? Manche Umfrageinstitute sehen die SPD, sollte Sonntag Bundestagswahl sein, bei zwölf Prozent, und bei einer Landtagswahl in Sachsen schon nur noch im einstelligen Bereich. Man sucht in der Satzung nach einer Art Patientenverfügung, die darüber bestimmt, ob man warten muss, bis der Wähler einen auspustet oder ob man die Maschinen abstellen darf.

Für das Berichterstattergeschäft bedeutet dies ähnliche Arbeitsplatzverluste wie es bei der sterbenden deutschen Automobilindustrie der Fall ist. Nicht nur die Arbeiter am Band werden arbeitslos, auch die Zulieferer verlieren ihre Beschäftigungsverhältnisse. Journalisten, die sich auf die SPD spezialisiert haben, bemühen sich bei ihren Vorgesetzten bereits seit Längerem darum, ob sie sich nicht zu Klimaprotestmarschkorrespondenten umschulen lassen dürfen. Die Sozialdemokratie reißt ganze Parlamentsredaktionen in den Abgrund, und so stellt sich die Frage, ob man als SPD-Spezialist denn kein Anrecht auf Subventionen habe, so wie die Bauern in der Europäischen Union. Der Kohleausstieg in der Lausitz wird sanft organisiert, bei der SPD lässt man es wie bei einem Atomreaktorunfall darauf ankommen. Müssen immer erst entsetzliche Bilder die Öffentlichkeit aufrütteln? Soll wirklich erst ein Foto von Sigmar Gabriel um die Welt gehen, wie er im Schlauchboot auf dem Weg nach Dänemark in der Ostsee in Seenot gerät? Können Medien, Parteien und die EU nicht ein einziges Mal vor der Katastrophe um eine "gemeinsame Lösung ringen", bevor die ganze "Branche ins Rutschen" gerät?

Weil Gott Sozialdemokrat ist, lebt die SPD noch ein bisschen. Trotzdem sollte man sie als Protestpartei behandeln. Formal erfüllt sie dafür alle Kriterien. Sie hat kaum Wählerstimmen, ist intern zerstritten, und während andere Parteien ihre Wähler dort abholen, wo sie sind (die FDP beispielsweise in Arztpraxen, Kanzleien und Bäckereischlangen), irrt die SPD umher und sucht immer noch verzweifelt. Einige Prominente traten aus Mitleid öffentlich in die SPD ein. Hin und wieder setzt sich einer der berühmten Unterstützer ins Fernsehen und winkt mit den Armen, um sich bemerkbar zu machen.

Bitte künftig nur "die da oben" und die "Menschen da draußen"

Parteien, die in kurzer Zeit viele Wähler gewinnen wollen, wird in der Regel der Rat gegeben, kräftig nach rechts zu rücken. Zugegeben, man braucht schon etwas Mut, um ein paar miese Gesetze gegen Migranten, Ausländer und Asylsuchende zu beschließen, während diese Gruppen zeitgleich durch Rechtsterroristen bedroht werden. Nun ist aber eine blöde Situation eingetreten. Die AfD sieht mittlerweile eine Menge Forderungen umgesetzt, weil einige ihrer Wahlversprechen längst als Gesetz beschlossen die Unterschrift der SPD tragen. Beispielsweise Abschiebungen, Ausdeutschungen, und das Entscheiden über Staatsangehörigkeiten nicht nach Gesetz, sondern nach Augenschein durch die Verwaltungsfachangestellten Sabine und Gabi. Nach welchen Kriterien genau weiß man nicht. Vielleicht nach Haarstruktur und Zungenlänge. Deutschtests zählen seit 80 Jahren zur Kernkompetenz dieses Landes.

Natürlich wünscht man sich als politische Kolumnistin für eine Partei, der man die schönsten und erfolgreichsten Kolumnen zu verdanken hat, ein würdevolles und selbstbestimmtes Ende. Man will nicht noch sinnlose Ratschläge wie "Lasst euch auch mal an die frische Luft rollen" durch die Infektionsschleuse durchrufen. Nur so viel: Als Protestpartei kann es hilfreich sein, wenn man alle anderen Parteien als "etablierte Blockparteien" bezeichnet. Also grundsätzlich vom Altparteienkartell sprechen, wenn man die AfD oder die Grünen meint. Man muss jetzt aus der Perspektive des Underdogs kommunizieren. Die ganze Welt gehört in "die da oben" und "die Menschen draußen" eingeteilt. Anderen Parteien halfen Selbstinszenierungen als Stimme der "schweigenden Mehrheit". Als Genosse lässt sich das wunderbar modifizieren. Man könnte stellvertretend für die Millionen ruhenden Wähler sprechen. Sich als kalt gewordener Docht der erloschenen Stimmen aufführen.

Und dann auch noch Lafontaine

Ähnlich wie es die AfD mit ihrem Formfehler bei der Landeslistenaufstellung in Sachsen macht, indem sie politische Sonderregeln für sich einfordert und mit einer Klage droht, sollte sich auch die SPD um Schlupflöcher bemühen. Da bei ihr mit weniger sicheren Listenplätzen zu rechnen ist, muss sie per Klage fordern, dass jede Stimme vierfach gezählt und die Fünfprozenthürde für sie gesenkt werden. Als Grund könnte sie mathematische Benachteiligungen durch fehlenden Wählerzuspruch im Mehrheitsfindungsprozess nennen. Das Scheitern als globales Symptom beschreiben, Zusammenhänge herstellen, Stichwort Bienensterben.

Als Protestpartei – und das ist die gute Nachricht – ist der SPD und ihrer Handvoll Wähler künftig ein Dauerplatz im öffentlichen Diskurs gesichert. Wenn sie sich nicht ganz dumm anstellt, kann sie sich auf diese Weise auf den letzten Metern mit Deutschland versöhnen. Außer der Willy-Brandt-Statue gibt es ja nichts mehr zu vererben. Neulich bot sich Oskar Lafontaine an, eine Fusion mit der Linken vorzubereiten. Man kann sich natürlich vorstellen, wer ihm als Chef einfiel. Auf solche Angebote sollte man auf keinen Fall eingehen. Das sind Todesküsse. Das ist, als würden sich ein Nierenkranker und ein Leberkranker gegenseitig Organe spenden.

In der verbleibenden Zeit sollte es nur noch auf den Seelenfrieden ankommen. Dass man sich nicht mehr böse ist. Dass Zeit bleibt zum Abschiednehmen. Und darauf achten, dass Skandalblätter wie BIMS, BAMS und BUMS keine unvorteilhaften Bilder abdrucken. Um der Öffentlichkeit so im Gedächtnis zu bleiben, als sie noch ein Mal beisammen waren. Das war Anfang Juni, als die letzte regulär gewählte Parteivorsitzende Andrea Nahles das Amt verließ und Malu Dreyer, Manuela Schwesig und Thorsten Schäfer-Gümbel als Vertretung einsprangen. Sie waren glücklich und lachten unbeschwert in die Kameras.