30 Jahre World Wide Web :
Der Aufstieg der Nerds

Alexander Armbruster
Ein Kommentar von Alexander Armbruster
Lesezeit: 3 Min.
Tim Berners-Lee im November 2018 auf der Technologie-Konferenz „Web Summit“ in Lissabon
Tim Berners-Lee hat geholfen, die Menschheit in bislang nie gekanntem Ausmaß zu vernetzen. 30 Jahre nach der Erfindung des World Wide Web zweifelt nicht nur er daran – zu Recht?

Was für eine Erfindung! Am 12.März vor 30 Jahren schlug ein junger britischer Informatiker namens Tim Berners-Lee seinem Arbeitgeber, dem Physiklabor Cern in Genf, ein System vor, mit dessen Hilfe Wissenschaftler neue Erkenntnisse leichter teilen und mit Kollegen auch an entfernten Orten fächerübergreifend diskutieren konnten – Forschung ist schließlich seit jeher eine höchst internationale Angelegenheit.

Ohne dass sein Erschaffer dies ursprünglich so beabsichtigte, entstand daraus mit dem World Wide Web das Internet, wie wir es heute kennen. Und wie es täglich Milliarden Menschen rund um den Globus stundenlang für alle möglichen Belange nutzen: als Warenhaus, Kino, Schule, Arztpraxis, Bücherei oder Büro. Berners-Lee, den die Queen für seine Errungenschaft zum Ritter schlug, hat dazu beigetragen, die Welt in bislang nie gekanntem Ausmaß zu vernetzen.

Die Leistung eines Einzelnen, gar ein spontaner Geistesblitz, ist diese Technologie wiederum nie gewesen. Schon in den sechziger Jahren finanzierte das amerikanische Militär eine dezentrale, widerstandsfähigere Kommunikations-Infrastruktur, standardisierten Forscher wie Vint Cerf oder Robert Kahn die Datenübertragung zwischen Computern.

Nicht wegzudenken ist natürlich die Erfindung des Rechners selbst, des Transistors, des integrierten Schaltkreises. Auch ohne die findigen Unternehmer Bill Gates und Paul Allen (beide Microsoft) sowie Steve Jobs und Steve Wozniak (beide Apple) wäre der Aufstieg des Internets nicht möglich gewesen: Sie halfen mit leichter bedienbaren Benutzeroberflächen, aus den kleiner und schneller werdenden Rechnern echte Heimcomputer für jedermann zu machen.

Schnell zum Milliardär

Für den Durchbruch des World Wide Webs als Massenmedium wiederum sorgte auch der Tüftler Marc Andreessen. Er erdachte den leicht handhabbaren Browser Netscape Navigator, der Börsengang des dahinter stehenden Unternehmens setzte Maßstäbe und weckte neue Phantasie unter Anlegern. Im Februar 1996 zeigte das „Time“-Magazin ihn auf der Titelseite, barfüßig auf einem Thron sitzend, in Bluejeans, schwarzem Shirt und mit angriffslustigem Lächeln. „Die Goldenen Computerfreaks“, stand daneben. „Sie erfinden. Sie gründen Unternehmen. Wer sind sie?“

Wer will, kann darin das Sinnbild einer neuen Ära sehen. Unternehmungsfreudige Informatiker träumen seither davon, sich in kurzer Zeit eine Millionenkundschaft und ein Milliardenvermögen zu programmieren. Der ehemalige Hedgefondsangestellte Jeff Bezos gründete den Online-Buchladen Amazon, einige Jahre später die Studienfreunde Larry Page und Sergej Brin ihre Suchmaschine Google.

„Diejenigen, die der Logik des Netzes gehorchen (...) werden einen bedeutenden Vorteil haben in der Neuen Ökonomie“, sagte der Journalist Kevin Kelly voraus. Den Siegeszug der Computerexperten bremste jedenfalls auch der Börsencrash um die Jahrtausendwende nicht, im Gegenteil: Unternehmen aller Branchen suchen heutzutage händeringend nach IT-Cracks, das Zeitalter der Nerds ist noch lange nicht vorbei.

An die Stelle der vielfach überbordenden Hoffnung in der Anfangszeit ist 30 Jahre nach der Erfindung des World Wide Webs gleichwohl erhebliche Ernüchterung getreten. Hat es wirklich mehr Frieden und Wohlstand gebracht? Als vor bald zehn Jahren der „Arabische Frühling“ ausbrach, sahen viele in den sozialen Medien ein mächtiges Instrument, um Autokraten abzusetzen.

Heute dreht sich die Diskussion darum, ob mit ihrer Hilfe andere Staaten Wahlen in freiheitlichen Demokratien manipulieren können. Chinas Führung versucht mit immer ausgefeilterer Technik das von ihr regierte Milliardenvolk zu lenken, Russlands Regierung erhöht die Netzkontrolle. In Europa und Amerika untersuchen Marktwächter, ob online eigentlich noch genug Wettbewerb herrscht und regeln Politiker den Umgang mit Daten neu.

Tim Berners-Lee sorgt sich seinerseits schon länger um seine Kreation. In einem Brief, den er veröffentlicht hat zum Jubiläum, beklagt er Hacker-Kriminalität, Hass und Hetze im Netz und die seiner Ansicht nach schlechte Qualität des Online-Diskurses. Er kritisiert zudem, freilich ohne Facebook oder ein anderes Unternehmen namentlich zu nennen, „perverse Anreize“ für werbefinanzierte Geschäftsmodelle, die es sogar lohnend machten, Falschinformation zu verbreiten.

Ziemlich sicher wird sich in den kommenden Jahren in punkto Datenschutz viel ändern. Fraglich ist hingegen, ob Berners-Lees Vision eines Internets, in dem sich – zugespitzt gesprochen – alle Beteiligten stets konstruktiv austauschen und im Streitfall Kompromisse suchen, die zumindest niemanden schlechter stellen, mehr ist als eine schöne Illusion. Weder politische noch wirtschaftliche Grundregeln hat das Netz bislang außer Kraft gesetzt.

Realistisch ist darum etwas anderes: Die eine Hälfte der Menschheit ist schon online, die andere folgt ihr nach. Das Internet wird auch künftig der digitale Spiegel von Milliarden Leben, Wünschen, Hoffnungen, Gewohnheiten sein, nicht „besser“ oder „schlechter“. Allein das ist übrigens nicht schlecht.

Mit dieser Seite fing alles an.

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