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Autofreie Stadtviertel: Das Glück liegt auf der Straße

Foto: Jürgen Pander

Autofreie Stadtviertel Erst sind alle dagegen - und dann dafür

Im Hamburger Stadtteil Ottensen sollen zwei Straßen für sechs Monate weitgehend autofrei bleiben. Immer mehr Städte drängen das Auto zurück, um wieder mehr Platz für die Menschen zu schaffen.

"Ottensen macht Platz" - unter diesem Motto wird an diesem Sonntag ein Straßenfest in Hamburg-Ottensen gefeiert, mit dem ein in der Stadt viel beachtetes Projekt beginnt: Eine bereits bestehende Fußgängerzone wird ausgebaut und in die angrenzenden Straßen verlängert. Autos müssen dort fortan draußen bleiben.

Weitgehend zumindest, denn für Taxis oder Lieferfahrzeuge gibt es Ausnahmeregelungen, von 23 bis 11 Uhr dürfen sie in die Zone einfahren. Ziel sei es, mehr Platz für Fußgängerinnen und Radfahrer zu schaffen und den öffentlichen Raum attraktiver zu gestalten, teilt das zuständige Bezirksamt Altona in einem Faltblatt mit. Die Chancen dafür stehen gut, denn es weichen mindestens 163 Autos, die bislang als blecherne Mauer die engen Straßen des Quartiers säumen - so viele Parkplätze fallen nämlich weg.

"Umparken im Kopf", das war mal ein Reklamespruch von Opel, die Formel passt jedoch ebenso zu vielen städtischen Verkehrsprojekten der jüngsten Zeit, mit denen überall in Europa Kommunalpolitiker den öffentlichen Raum neu ordnen wollen. Stand bislang das Auto - also Straßen, Parkplätze, grüne Welle - im Zentrum der Planungen, rückt jetzt der Mensch wieder mehr in den Mittelpunkt.

"Kein Projekt bekannt, das fehlgeschlagen ist"

Fast immer formiert sich dagegen Widerstand: Gewerbetreibende sorgen sich um die Erreichbarkeit ihrer Geschäfte, Anwohner um die Nachtruhe wegen lärmender Straßenpartys, Pendler um die gern genutzte Abkürzung. Fast immer ist es dann aber so: Die Bedenken lösen sich in Luft auf, in den Geschäften steigt der Umsatz, die Menschen nutzen die neuen Freiräume.

"Mir ist kein Projekt dieser Art bekannt, das fehlgeschlagen ist", sagt Philine Gaffron, Ober-Ingenieurin für Verkehrsplanung und Logistik an der TU Harburg. Als in München die Fußgängerzone auf der Sendlinger Straße zunächst für ein Jahr auf Probe erweitert wurde, war die Skepsis anfangs ebenfalls groß. Nach der Testphase sprach sich allerdings auch eine große Mehrheit der Betroffenen dafür aus, dass die neue Fußgängerzone bleiben soll. So kam es.

Video aus Utrecht: "Wir geben die Stadt den Menschen zurück"

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Beispiel Wien, Mariahilfer Straße. Da wurde ein "Shared-Space"-Konzept zur Probe eingeführt. Dabei teilen sich Autos mit Schrittgeschwindigkeit den Verkehrsraum mit Bussen, Fahrrädern und Fußgängern. Als die Probezeit um war, sprachen sich bei einer Befragung 71 Prozent für eine Beibehaltung aus - heute gelten die 1,8 Kilometer im Zentrum Wiens als beispielhaft für eine moderne Großstadtmobilität.

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Autofreie Stadtviertel: Das Glück liegt auf der Straße

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"Natürlich gibt es Sorgen und Bedenken, wenn sich in der unmittelbaren Umgebung etwas verändert und diese Veränderung auch das persönliche Verhalten und die Mobilitätsgewohnheiten betrifft", sagt Gaffron. "Deshalb ist es sinnvoll, Projekte wie 'Ottensen macht Platz' zunächst für begrenzte Zeit zu planen, um dann entweder korrigieren, verändern, auf jeden Fall aber qualifiziert entscheiden zu können." Das ist in Hamburg geplant, das Projekt wird wissenschaftlich begleitet, es wird Befragungen geben und mehrere Zählungen. Und es wird auch überprüft, welche Auswirkungen die neue, autoarme Zone auf die unmittelbar angrenzenden Straßen hat.

Sechs Monate lang wird nun ausprobiert. Was nach dem 29. Februar 2020 passiert - Aus- oder Rückbau - wird entschieden, wenn Anwohner, Gewerbetreibende und alle anderen Betroffenen Erfahrungen mit der neuen Autofreiheit gemacht haben. Etliche Anwohner - in Ottensen besitzen lediglich 27 Prozent der Haushalte ein eigenes Auto - begrüßen das Projekt, manchen geht es nicht weit genug, und manche äußern Kritik. Geklagt wird über mangelhafte Kommunikation, über die eingeschränkte Erreichbarkeit mancher Geschäfte oder Ärzte etwa für gehbehinderte Kunden oder bei eiligen Lieferungen.

Es wird also Ausnahmegenehmigungen für Autos geben. Zudem hat das Bezirksamt für Anwohner mit Privatauto in zwei umliegenden Parkhäusern Dauerparkplätze reservieren lassen, die zwischen 75 und 85 Euro pro Monat kosten - üblich sind in Ottensen sonst Stellplatzmieten von 100 Euro oder mehr. Johannes Gerdelmann, als Baudezernent des Bezirks Altona mit der Umsetzung von "Ottensen macht Platz" eng befasst, traf sich auf Einladung des "Hamburger Abendblatts" mit sechs Kritikern des Projekts - und beschrieb dabei die Realität so: "Wir merken gar nicht, dass wir seit Jahren in Ottensen in einem Modellversuch leben. In einem Versuch, bei dem ein so begehrter Stadtteil rund um die Uhr überall mit dem Auto erreichbar ist."

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Der Wille zum Wandel dieser Zustände ist nicht nur in Ottensen erkennbar, sondern in vielen Orten in Europa. Hier eine Auswahl von Projekten, die von Autos verstopfte Städte wieder etwas menschenfreundlicher machen oder machen sollen:

Bremen, Deutschland, 570.000 Einwohner: Die neue Regierungskoalition aus SPD, Grüne und Linke plant, das Zentrum der Hansestadt bis zum Jahr 2030 nach und nach autofrei zu machen. Parallel dazu soll der öffentliche Nahverkehr billiger werden und durch eine höhere Taktung und neue Buslinien auch nutzerfreundlicher. Ebenso gehören drei neue Fahrradbrücken über die Weser zum neuen Verkehrskonzept.

Gent, Belgien, 260.000 Einwohner: Am 3. April 2017 trat in Gent ein neuer Verkehrsplan in Kraft, mit dem der Durchgangsverkehr aus dem Stadtkern ausgesperrt und auf eine Ringstraße umgeleitet wird. Nur noch Anwohner dürfen in bestimmte Straßen fahren, bis 11 Uhr sind zudem Lieferwagen und Handwerkerautos dort erlaubt. Sonderregelungen gelten auch für Krankenwagen, Pflegedienste, Busse und Taxis. Breits nach gut einem Jahr war der Autoverkehr signifikant gesunken, dafür hatte der Fahrradverkehr zugenommen. Und: An 22 von 29 Messstationen hatte sich die Luftqualität verbessert.

Paris, Frankreich, 12,5 Millionen Einwohner (im Großraum): Bürgermeisterin Anne Hidalgo plant, ab 2020 die vier zentralen Innenstadt-Arrondissements von Paris weitgehend autofrei zu machen. Vorbild dafür ist das rechte Seine-Ufer zwischen dem Place de la Concorde und dem Rathaus von Paris, das bereits jetzt auf drei Kilometern Länge autofrei ist. Mit dem neuen Verkehrskonzept vertraut machen können sich die Menschen in der Stadt auch an jeweils einem Sonntag pro Monat, an dem bestimmte Straßen - darunter der Prachtboulevard Champs-Élysées - für den Autoverkehr gesperrt werden. Wenn das autofreie Zentrum von Paris kommt, sollen dort elektrische Shuttlebusse für zusätzliche Mobilität sorgen.

Oslo, Norwegen, 634.000 Einwohner: Eigentlich wollte die norwegische Hauptstadt bis zu diesem Jahr ein autofreies Zentrum schaffen. Weil sich Unternehmen wehrten, steckte die Stadtregierung zurück. Auf einigen Straßen dürfen Autos dennoch nicht mehr fahren und in anderen Bereichen wird der Verkehr zugunsten von Fußgängern und Radfahrern neu gestaltet. Zudem wurden Parkplätze im Stadtzentrum entfernt. Bis 2030 will Oslo die Emissionen um 95 Prozent senken. Die Stadtverwaltung der norwegischen Hauptstadt hat dafür sogar ein eigenes Klimabudget eingeführt.

Madrid, Spanien, 3,2 Millionen Einwohner: In Madrids Innenstadt dürfen seit letztem Jahr nur noch Anwohner und Fahrer von Hybrid-, Elektro- und Gasfahrzeugen fahren. Alte Dieselautos, Benziner und Motorräder dürfen gar nicht mehr in die Innenstadt. Die linke Stadtregierung Madrids versucht damit die massiven Smog-Probleme zu bekämpfen. Viele Gehwege wurden verbreitert und einspurige Tempo-30-Zonen eingerichtet. Die Sorge vieler Geschäftsleute vor Umsatzeinbußen erwies sich als unbegründet. Das Gegenteil trat ein: Während des Weihnachtsgeschäfts stiegen die Zahlen in den autofreien Zonen sogar an. Die Stickoxid-Emissionen wiederum konnten um 38 Prozent gesenkt werden.

Pontevedra, Spanien, 82.000 Einwohner: Das Zentrum der spanischen Stadt Pontevedra ist seit 20 Jahren quasi autofrei. Nur noch wenige Fahrzeuge von Anwohnern, der öffentliche Nahverkehr und der Lieferverkehr dürfen einfahren. In der Stadt gibt es keine Fahrbahnmarkierungen mehr. Bürgersteig, Fahrradweg und Straße sind nicht zu unterscheiden, Verkehrszeichen gibt es kaum. Fußgänger haben immer Vorrang, gefolgt von Fahrradfahrern. Erst dann folgen Autos, sie dürfen maximal 30 km/h fahren. Die Umsätze in der Innenstadt stiegen an, die Kohlendioxid-Emissionen gingen um 70 Prozent zurück. Seit Jahren gab es in der Innenstadt keine Verkehrstoten mehr.

Houten, Niederlande, 50.000 Einwohner: Die Kleinstadt gilt international als Modell für zukünftige Verkehrskonzepte. Sie ist komplett auf Fahrradfahrer ausgerichtet. Geplant wurde sie in den Siebzigerjahren vom Stadtplaner Robert Derks, der neuen Wohnraum für das nahe gelegene Utrecht plante. Autos sind in der Stadt selten, der Autoverkehr wird über Umgehungsstraßen abgewickelt. Das Zentrum wiederum ist autofreie Zone. Seit 40 Jahren gab es in Houten keinen tödlichen Fahrradunfall. Und: Der Einzelhandel profitierte von der Verkehrsänderung. Die Tarife der Parkhäuser am Stadtrand (die ersten zwei Stunden sind kostenlos) lockt Kunden aus dem Umland an.

VIDEO: Houten, wo das Fahrrad immer Vorfahrt hat

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Brüssel, Belgien, 174.000 Einwohner: Brüssel verdoppelte seine autofreie Zone im Zentrum vor wenigen Jahren von 28 auf nun 50 Hektar. Es ist eine der größten Pkw-freien Zonen Europas. Nach einer achtmonatigen Testphase wurde die zentrale Achse Brüssels, der Boulevard Anspach samt angrenzender Straßen komplett für den Autoverkehr gesperrt. Nach anfänglichen Einbußen profitierten inzwischen auch hier die ansässigen Unternehmen von der neuen Verkehrsplanung.