Myanmar: Zunehmende Spannungen stellen Parlamentswahlen in Frage

Analyse

Am 1. Februar 2021 übernahm die Armee mit einem Militärputsch die Macht in Myanmar. Nach dem Völkermord an den Rohingya, welcher weltweites Entsetzen auslöste, will sich das Militär seither mit Verhaftungen, Folterungen und der Tötung von Zivilisten die Macht im Staat sichern.

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Min Aung Hlaing, der Verantwortliche für die Organisation des Putsches in Myanmar, wurde die höchste Ehre in einer Ausstellung zuteil. Diese Ausstellung präsentiert Porträts von Militärführern in einem Museum in Naypyidaw, der Hauptstadt.

Die Junta rechtfertigte ihren Staatsstreich mit dem Verweis auf Wahlfälschungen bei den Parlamentswahlen von 2020. Auch wenn es vereinzelt zu Unregelmäßigkeiten gekommen sein mag, haben sowohl internationale als auch regionale Wahlbeobachtungsgruppen einstimmig bezeugt, dass die Wahlen transparent, frei und fair abgehalten wurden. In ihrer Putscherklärung versuchten die Militärgeneräle ihre Aktion zu legitimieren, indem sie behaupteten, die Verfassung von 2008 zu befolgen. Im Gegensatz dazu halten juristische Fachleute und prodemokratische Aktivist*innen den Putsch eindeutig für illegal.

Ein geschichtlicher Abriss der Staatsstreiche und Verfassungen in Myanmar

Um die Verfassung von 2008 zu verstehen, ist ein Überblick der geschichtlichen Zusammenhänge unerlässlich.

Myanmar erlangte 1948 die Unabhängigkeit von der britischen Kolonialherrschaft, was zur Bildung der ersten Regierung des Landes und zur Ausarbeitung der ersten Verfassung führte. Diese erste Verfassung markierte den Beginn von Myanmars Verfassungsordnung nach der Unabhängigkeit.

Im Jahr 1962 kam es zum ersten Militärputsch in Myanmars Geschichte, was die erste Verfassung außer Kraft setzte. General Ne Win, der damalige Militärchef des Landes, führte den Putsch an und sein brutales Vorgehen spielt nach wie vor im kollektiven Gedächtnis der Menschen in Myanmar eine große Rolle. Vergessen haben sie auch nicht seine grausamen Worte: „Gewehre schießen nicht in die Luft, sondern direkt in die Stirn.“

Im Jahr 1974 trat eine neue Verfassung in Kraft, die zweite in der politischen Geschichte des Landes. Mit dieser Verfassung wurden ein sozialistisches System und eine Diktatur eingeführt. Entgegen den internationalen Erwartungen, dass sich Myanmar nach seiner Unabhängigkeit schnell entwickeln würde, stand das Land vor großen wirtschaftlichen Problemen und blieb rückständig.

In ihrem Volksaufstand von 1988 wollten die Menschen in Myanmar, mit friedlichen Protesten die Einführung der Demokratie, das Ende der langanhaltenden Armut und Unterdrückung durch die Militärdiktatoren erreichen. Die Armee schlug den Aufstand jedoch mit brutaler Gewalt nieder, verhängte das Kriegsrecht und führte damit einen zweiten Staatsstreich durch.


Die Verfassung von 2008: Legitimierung der Militärherrschaft

Die aufgrund ihres Einbandes auch „Grünes Buch“ genannte Verfassung von 2008 verlieh der früheren Generation an Militärdiktatoren (siehe Info-Box) wieder Macht und Einfluss. Eine wichtige Klausel dieser Verfassung erlaubt es der Armee, die Macht zu ergreifen, wenn sie es für nötig hält. Zudem sind 25 Prozent der Parlamentssitze Mitgliedern des Militär vorbehalten, ohne dass sie gewählt werden müssen. Für eine Verfassungsänderung bedarf es der Unterstützung von 75 Prozent der Abgeordneten und einer anschließenden Volksabstimmung, bei der 50 Prozent der Wahlberechtigten ihre Zustimmung geben müssen. Deshalb erachten Rechtsgelehrte die Verfassung als einer der am schwersten zu ändernden weltweit.

Laut der Verfassung von 2008 müssen alle fünf Jahre Wahlen abgehalten werden. Gegen Ende 2010 kündigte die neue Generation an Militärdiktatoren Wahlen an, durch die in Myanmar angeblich der Übergang in eine Demokratie erfolgen sollte. Aus diesen ersten Parlamentswahlen von 2010 ging eine vom Militär unterstützte rechtsgerichtete Partei siegreich hervor, die sich aus früheren Armeegenerälen zusammensetzte, die nun die Regierung bildeten. Die National League of Democracy (Nationale Liga für Demokratie, kurz NLD), eine einflussreiche Partei in Myanmar, nahm an diesen Wahlen nicht teil. Die Parteivorsitzende und international bekannte umstrittene Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi stand unter Hausarrest und wurde erst nach Amtsantritt der Militärregierung aus dem Hausarrest entlassen.

Bei den Parlamentswahlen von 2015 gelang der NLD unter der Führung von Aung San Suu Kyi ein überwältigender Sieg, in dem sich ihr Einsatz für die Demokratie und die Menschenrechte widerspiegelte. Suu Kyi bildete erfolgreich eine Zivilregierung, konnte aber aufgrund von verfassungsrechtlichen Bestimmungen selbst nicht Präsidentin werden. Deshalb wurde ein eigens für sie geschaffener Posten umgesetzt, bei dem sie sowohl als eine Art Staatsberaterin als auch Außenministerin fungierte.

Auch in den Parlamentswahlen von 2020 konnten sich Aung San Suu Kyi und die NLD den Sieg in den meisten Wahlkreisen sichern. Dieses Mal verwehrten die Armeegeneräle der Partei jedoch die Möglichkeit, eine Regierung zu bilden. Am 1. Februar 2021, dem Tag der ersten Sitzung des Parlaments mit den bei den dritten Parlamentswahlen gewählten Abgeordneten, führte das Militär Myanmars erneut einen Staatsstreich durch – der dritte Militärputsch in der politischen Geschichte des Landes.

Die Pläne des Militärs in Bezug auf die Wahlen

Initiator des Militärputsches von 2021 war General Min Aung Hlaing, der Oberbefehlshaber der Armee Myanmars. In seinen Reden an die Öffentlichkeit sagte er immer wieder: „Nach den Wahlen werden wir die Macht an die gewählte Regierung übergeben.“ Aber niemand weiß, wann diese Wahlen stattfinden werden.

Die neue Wahlkommission hat unlängst ein Gesetz für die Registrierung von politischen Parteien in Kraft gesetzt. Rund 63 Parteien haben einen Antrag auf Registrierung gestellt, von denen die meisten derzeit noch überprüft werden. Nach Abschluss des Registrierungsverfahrens soll die Wahlkommission innerhalb der nächsten acht Monate Wahlen durchführen.

Bei den kommenden Wahlen, die von der Diktatur organisiert wird, werden die Abgeordneten per Verhältniswahlrecht gewählt – eine Abkehr vom Mehrheitswahlrecht, das in den drei vorhergehenden Wahlen galt. Der Vorsitzende der Volkspartei U Ko Ko Gyi äußerte in einem Gespräch mit den Medien: „Es wurde noch nicht angekündigt, nach welchen Regeln und Vorschriften das neu eingeführte Verhältniswahlrecht durchgeführt wird. Deshalb stehen wir vor einem Wahlsystem, das wir noch nicht kennen.“

Bei den letzten Wahlen über 90 Parteien gelistet. Dieses Mal wurde jedoch die Hälfte dieser Parteien aus dem Wahlregister gestrichen oder lehnen die Wahl von sich aus ab. Die meisten dieser Parteien treten für Demokratie und Menschenrechte ein. Insbesondere die Vorsitzenden und Mitglieder von den großen Parteien, die bei den letzten Wahlen die höchsten Stimmenanteile hatten, wurden verhaftet oder sind auf der Flucht. Einige werden streng überwacht, während sich andere an der Revolution gegen die Militärdiktatur beteiligen.

Widerstand: friedlich und bewaffnet

Während die Junta ihre gewaltsame Unterdrückung des Volkes fortsetzt und versucht, sich mithilfe von Wahlen an der Macht zu halten, leisten revolutionäre Kräfte Widerstand gegen die Militärdiktatur und kämpfen für die Einführung eines föderalen demokratischen Systems. Dazu wurde der sogenannte National Unity Consultative Council  (Konsekutivrat der Nationalen Einheit, kurz NUCC) gegründet, der sich aus Parteimitgliedern, im Jahr 2020 gewählten Abgeordneten, ethnisch revolutionären Gruppen, die für Autonomie und ihre Rechte kämpfen, Vertretungen aus den Bundesstaaten und ethnischen Gruppen, Studierenden, Arbeitenden sowie Jugend- und Frauengruppen zusammensetzt. Über die politischen Diskussionen dieses Rats kam es zur Gründung der National Unity Government  (Nationalen Einheitsregierung, kurz: NUG), mit der de facto eine Schattenregierung entstand. Diese Schattenregierung will eine föderale Demokratie umsetzen und hat mit der Volksverteidigungsarmee (den People's Defense Forces, kurz: PDF), eine bewaffnete Gruppierung gegen die Militärdiktatur gebildet.

Zudem schlossen sich friedlich Protestierende den bewaffneten Revolutionär*innen an, nachdem das Militär mit brutaler Gewalt auf ihre friedlichen Demonstrationen gegen den Putsch reagiert hatte. Mitglieder verschiedenster gesellschaftlicher Bereiche wie der Ärzteschaft, Lehrkräften, Angestellten und sogar Armee- und Polizeiangehörige schlossen sich der „Bewegung für zivilen Ungehorsam“ (Civil Disobedience Movement, kurz: CDM) an, um ihrem Widerspruch Ausdruck zu verleihen. Die Aktivist*innen dieser Bewegung, die ständig von Verhaftung und Inhaftierung durch die Diktatoren bedroht sind, suchen in Gegenden Zuflucht, die von ethnischen bewaffneten Kräften kontrolliert werden, oder entlang der Grenze zu Thailand. Auch einige Armee- und Polizeiangehörige kämpfen mit den bewaffneten Gruppierungen gegen das Militär und arbeiten mit der Volkverteidigungsarmee zusammen.

Als Reaktion auf den revolutionären Widerstand führt das Militär umfangreiche Operationen in den Regionen durch, in denen der Widerstand besonders stark ist. Diese Operationen beinhalten das Niederbrennen von Städten und Dörfern, die Massentötung von Zivilist*innen, Luftangriffe und Artilleriefeuer auf Flüchtlingslager, Schulen, Krankenhäuser und religiöse Gebäude, in denen diejenigen, die dem Krieg entfliehen wollen, Zuflucht suchen. Diese Gräueltaten kommen fast täglich vor und fügen den Menschen in Myanmar unermessliches Leid zu.

Das Institute für Strategie und Politik – Myanmar berichtete, dass es in den beiden Jahren seit dem Militärputsch in 205 der 330 Gemeinden Myanmars zu bewaffneten Konflikten kam, was in mehr als 9.3000 Gefechte mündete. Die über 2,5 Millionen Menschen, die aufgrund des Krieges zu Binnenvertriebenen wurden, und die über 38.000 zerstörten Privathäuser und Gebäude unterstreichen das Ausmaß der Verwüstung.

Als Beispiel sei hier die Stadt Thantlang im Bundesstaat Chin im Nordwesten Myanmars an der Grenze zu Indien genannt. Die Stadt mit etwa 1.800 Häusern erlebte über Monate Zerstörungen und Brandstiftungen, nachdem sie unter die Kontrolle des Militärs geraten war. Die Bevölkerung von über 10.000 Menschen war gezwungen zu fliehen und Zuflucht an der Grenze zu Indien zu suchen.

Die Wahlen als Ausweg?

Lokalen Medien zufolge äußerte der Vorsitzende der Wahlkommission des Militärrats während eines Treffens mit einigen politischen Parteien: „Wenn die Sicherheit gegeben ist, werden Wahlen stattfinden.“ Da die Lage jedoch weder friedlich noch stabil ist, bleibt es ungewiss, wann die Wahlen stattfinden. Die Situation wird noch dadurch erschwert, dass es für die Gültigkeit von Wahlen keine Mindestwahlbeteiligung gibt.

„Da in der Region kein Frieden und keine Stabilität herrscht, wird es noch keine Wahlen geben. Aber wenn sie es erzwingen, könnte es passieren. Denn das Gesetz sieht keine Mindestzahl an Wähler*innen vor, um ein Quorum zu bilden“, sagte U Aung Naing Oo, ein ehemaliger Politiker aus dem Mon-Staat. In den Parlamentswahlen von 2020 wurde er zum Abgeordneten des Repräsentantenhauses gewählt und war früher Vizevorsitzender des Repräsentantenhauses vom Mon-Staat.

Politische Analysen kommen zu dem Schluss, dass die gegenwärtigen Konflikte in Myanmar die Folge des Militärputsches sind. Um diese Krise zu überwinden, haben einige Parteien, die sich schon von der jetzigen Wahlkommission registrieren ließen, für sich entschieden, dass Wahlen der einzige Ausweg sind.

Dr. Aye Maung, der Vorsitzende der Nationalen Führungspartei des Rakhine-Staats sagte in einem Exklusivinterview mit BBC Burmese: „Ob die Wahlen fair oder unfair sind und ob die Öffentlichkeit die Wahl unterstützt oder nicht, ist nur eine Seite der Medaille. Wir registrieren eine Partei mit der Vorstellung, wie aus der gegenwärtigen Krise heraus eine repräsentative Regierung gebildet werden kann.“ In der burmesischen Gemeinschaft gilt der Politiker als Rechtsnationalist.

Momentan hält das Militär Myanmars unter dem Vorwand an der Macht fest, dass die gegenwärtige Situation „unnormal“ sei. Da die Wahlen erst dann stattfinden werden, wenn das Land befriedet ist, lässt sich kaum vorhersagen, wann die Wahlen schließlich stattfinden werden.


Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de