Gristede - Wenn Sebastian Mare auf der kleinen Geige loslegt, dann macht er das wie ein Autofahrer in einem dicken Schlitten. Er gibt Gas und schert auf die Überholspur. In der Scheune von Gut Horn in Gristede drückt auch der Rumäne erst mal ordentlich auf die Tube. Aber er braust seinen Mitstreitern vom Quintett „Foaie Verde“ nicht davon. Er hält an zwei ausverkauften Abenden im Rahmen der ostfriesischen Gezeitenkonzerte seinen Konvoi über zwei Stunden lang souverän zusammen.

Musik vom Balkan. Da hat die Geige grundsätzlich das erste Wort. Mare hält eine ebenso fetzige wie kunstvolle Klangrede. Die Zuhörer beginnen früh zu ahnen: Folklore, Klezmer, Jazz, Balladen, Liebeslieder, synkopierte Rhythmen aus Rumänien, Ungarn, Bosnien, der Türkei, Bulgarien oder auch Russland ergeben keinen beliebigen Mischmasch. Schon zwischen Flageoletts und Springbogen-Eskapaden kündigt der Geiger an: Die Musik aus der Welt der Sinti und Roma hat viele Facetten, sie spitzt die Ohren der Hörer und öffnet ihren Sinn für kleine Miniwunder.

2013 hat sich die Gruppe zusammengefunden. Neben Mare nehmen Katalin Horvath (Ungarn/Gesang), Frank Wekenmann (Tübingen/Gitarre), Vladimir Trenin (Russland/Bajan) und Veit Hübner (Ungarn/Kontrabass) die Hörer mit auf landschaftliche und mentale Berg- und Talfahrten. Wekenmann und Hübner festigen das rhythmische Grundgerüst, eher souverän als spektakulär. Darüber können die anderen Drei glänzen. Doch bei aller Virtuosität sind es die Momente des Augenzwinkerns, des direkt Berührenden, des haarfein doppeldeutig Pathetischen, die den wirklichen Wert von „Foaie Verde“ (Grünes Blatt) ausmachen.

Die Sängerin beherrscht mit Energie und Liebreiz die Bühne. Auf Anhieb lehrt sie das Publikum, wann es bei der besungenen Zugfahrt eines Schaffners mit seiner neuen Liebschaft „Hopa“ rufen muss. Ein bosnisches Lied bringt Melancholie und Glück in Einklang. Nach einer lebenslangen Männerfreundschaft über ihre Familien hinaus ist der eine Freund gestorben. Trotzdem spürt der andere bei aller Trauer: „Trotzdem bin ich glücklich, dass wir eine solche Freundschaft hatten.“ Da baut die Sängerin Emotionen auf.

Fans in Gristede gewinnt auch Vladimir Trenin, der Bajanspieler aus dem russischen Samara. Er juchzt im Einklang mit der Geige, er schwankt bewegend in der Stimmung zwischen Heiterkeit und Melancholie. Er ist ein Zauberer auf diesem Knopfakkordeon mit seinem größeren Tonumfang und leicht orgelnden Klang. Bitteschön, es möge sich niemand bei dieser Bewertung zurückgesetzt fühlen: Mare, Horvath, Wekenmann und Hübner erhalten die Höchstnote 10 – aber für Trenin muss es eine 10,02 sein.