Berlin/Tuttlingen . Den Notarzt rufen oder lieber nicht, weil die Klinik überlastet ist? Ein Rundschreiben des Landrats von Tuttlingen sorgt für Empörung.

Ein schlichter Rundbrief des Landratsamt in Tuttlingen und dem örtlichen Krankenhaus zur Corona-Situation hat hohe Wellen geschlagen. Grund dafür sind bestimmte Formulierungen in dem Schreiben, die so interpretiert werden können, als sollten bestimmte Bevölkerungsgruppen im Fall von schweren Covid-19-Erkrankungen auf eine Behandlung in der Klinik zugunsten anderer verzichten.

In dem Brief von Anfang Dezember werden Pflege- und Behindertenzentren aufgefordert, „in dieser schwierigen Zeit Krankenhauseinweisungen besonders sorgfältig zu bedenken“. Weiter heißt es: „In Anbetracht dieser Situation müssen wir sehr gewissenhaft mit unseren Kapazitäten umgehen.“ In dem Brief wird mehrfach eindringlich auf die angespannte Corona-Situation, die fehlenden Intensivbetten und die Überlastung des Personals in den Kliniken hingewiesen.

Corona: Landratsamt Tuttlingen wies Betroffene auf schlechte Behandlungschancen hin

In den vergangenen Wochen habe man festgestellt, dass vor allem ältere Menschen, viele mit schweren Begleiterkrankungen, zur akutstationären Behandlung eingeliefert würden. Würde man mit diesen Eigenschaften schwer an Corona erkranken, so seien dies keine guten Voraussetzungen für eine erfolgsversprechende Behandlung.

„Wird eine invasive Beatmung vorgenommen, so hat schon diese eine sehr hohe Sterblichkeit. Selbst wenn diese Phase überlebt wird, ist die Sterblichkeit innerhalb der nächsten Wochen sehr hoch. Das Leiden dieser Menschen unter der Therapie ist groß“, heißt es in dem Brief, der unserer Redaktion vorliegt. Das Schreiben wurde mit einem Formular verschickt, in dem die Menschen vorab ihren Behandlungswillen hinsichtlich einer Corona-Erkrankung festlegen sollten. Diese Erklärung sei unabhängig von einer bestehenden Patientenverfügung, heißt in der Anlage.

Corona-Lage in Tuttlingen: Versteckte Triage durch Schreiben an Pflegeheime?

„Lassen Sie uns gemeinsam dafür Sorge tragen, dass die Behandlungsmöglichkeiten im akutstationären Bereich tatsächlich den Menschen – auch denen unter Ihren Bewohnerinnen und Bewohnern – zur Verfügung gestellt werden, die davon profitieren können“, schreiben die Verfasser.

In den sozialen Netzwerken ballte sich ein Sturm der Entrüstung, vor allem, nachdem die „Welt“ über das Schreiben berichtet hatte. Sollten in Tuttlingen Betroffene von einer Behandlung schon im Vorfeld ausgeschlossen werden, um eine Klinik-Überlastung zu vermeiden? Findet hier eine versteckte Triage statt?

Pflegeheimträger empört: Bei Bedarf müssen Corona-Patienten immer bestmögliche Behandlung bekommen

Das Schreiben erreichte die Träger der Pflegeheime am 4. Dezember per Rundmail. Viele Betreiber, beispielsweise die Stiftung St. Franziskus, reagierten darauf empört. Die Stiftung machte ihre Antwort an das Landratsamt wenige Tage später öffentlich.

„Die Ermittlung des ‚Willens‘ ist eine hochsensible Aufgabe, die umfassende zeitliche und fachliche Ressourcen benötigt und die in der aktuellen Pandemie-Situation so kaum ethisch vertretbar durchgeführt werden kann“, schreiben die Vorstandsmitglieder Thorsten Hinz und Stephan Guhl an das Landratsamt. „Insofern lehnen wir auch die Weitergabe Ihrer Anlage ab und bitten Sie dringend zu prüfen, diese wieder zurückzunehmen.“

Die Stiftungsvertreter erinnern an den grundgesetzlichen Anspruch auf medizinische Versorgung – und fordern den Landkreis auf, im Zweifelsfall Unterstützung aus anderen Regionen oder gar Bundesländern anzufordern. Zwar werde man – wie immer – Akut- und Notfallmedizin im Landkreis nur bei notwendigem Bedarf in Anspruch nehmen. „Wenn allerdings dieser Bedarf gegeben ist, müssen wir uns darauf verlassen können, dass unsere Klienten die bestmögliche medizinische Versorgung erfahren, die ihnen zusteht“, so Hinz und Guhl.

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Corona-Schreiben an Pflegeheime – Diskriminierung vulnerabler Gruppen?

Der Brief des Pflegeheimträgers sorgte nochmal bundesweit für Aufmerksamkeit. Wolfgang Tyrychter, Vorsitzender des Bundesverbands Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CPB), erklärte gegenüber „Welt“: „Als Leistungserbringer für Menschen im Alter und mit Behinderungen weisen wir die Forderung zurück, vor möglichen Krankenhauseinweisungen eine Vorauswahl zu treffen und das Krankenhaussystem nur zurückhaltend zu nutzen.“ Besonders gefährdete Gruppen zu bitten, sich gut zu überlegen, ob sie im Notfall tatsächlich intensivmedizinische Behandlung wünschen, hält er für „diskriminierend“.

Der Landkreis wehrt sich nun gegen diese Darstellung: „Uns war es wichtig, mit dem Brief den Behandlungswunsch der in der Regel schwerstpflegebedürftigen und schwersterkrankten Menschen zu erfahren, um im Falle einer Notfallbehandlung auch dem Willen und Wunsch des Patienten entsprechend verfahren zu können“, heißt es vom Landkreis. Und das Landratsamt ließ mitteilen: „Das Klinikum behandelt nach wie vor jeden, der eine Behandlung wünscht. Aber diese Entscheidung muss auch gut vorbereitet werden.“

Zu dieser Vorbereitung gehöre auch die Auseinandersetzung mit der Behandlung und den möglichen Erfolgschancen: „Durch eine gute Vorbereitung und frühzeitige Gespräche soll eine Triage gerade verhindert werden. Es ist unseres Erachtens keine Diskriminierung, sondern Fürsorge!“

Landratsamt und Klinikum wollten zum „Nachdenken“ anregen

Das Ziel sei gewesen, vor allem ältere Menschen aufzuklären und zum Nachdenken anzuregen, wie im Falle eines schweren Corona-Verlaufs mit ihnen verfahren werden soll. Es sei wichtig, auch die Risiken solcher intensivmedizinischer Behandlungen anzusprechen, erklärt das Landratsamt in der Stellungnahme. In der Anlage des Schreibens sei vermerkt, dass eine Äußerung freiwillig sei. Landrat Stefan Bär sagte dem SWR, dass ein solches Schreiben bereits im November 2020 verschickt worden sei. Damals habe es keine Beschwerden gegeben.

Der Landkreis Tuttlingen hat in Baden-Württemberg mit 423 eine der höchsten Sieben-Tage-Inzidenzen (Stand 22.12.21). Deswegen habe man zuletzt auch noch einmal die Intensivbettenanzahl erhöht. Ein Aufwachraum im Krankenhaus sei provisorisch zur intensivmedizinischen Behandlung umgestaltet worden, erklärte Landrat Bär.