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Franziska Augstein

Post von Augstein Was zu lange währt

Franziska Augstein
Eine Kolumne von Franziska Augstein
Unsere Wirtschaft ist kräftig, aber sie wird nicht mehr lange standhalten, wenn die Bürger nur das Nötigste einkaufen dürfen. Die Schäden, die das Coronavirus zusammen mit den Anti-Corona-Maßnahmen anrichtet, sind unabsehbar.
Bewohnerin einer Pflegestation in Kiel

Bewohnerin einer Pflegestation in Kiel

Foto: Frank Molter / picture alliance / dpa

Weil diese Kolumne auch für Leute geschrieben wird, die Covid-19 für bloß eine neue Art von Grippe halten, sei eingangs festgestellt: Wer das denkt, ist im Irrtum. Das Virus ist gefährlicher als die bekannten Influenzaviren. Weltweit sind viele junge, gesunde Ärzte über der Behandlung ihrer Patienten daran gestorben. Bei einer normalen Grippe wäre das gewiss nicht der Fall gewesen.

Annähernd die Hälfte der Deutschen ist bekanntermaßen ein Volk von Hobbyfußballtrainern, die vor dem Fernseher den Spielern Bescheid geben. Seit Monaten ist mehr als die Hälfte notgedrungen ein Volk von Hobbymedizinern. So erratisch sind die von den Regierungen von Bund und Ländern verordneten Anordnungen, so widersprüchlich sind die Empfehlungen des staatlichen Robert Koch-Instituts gewesen, so eingenordet auf die Regierungslinie sind die meisten Medien, dass viele Bürger sich nicht anders zu helfen wissen, als ins Internet zu steigen, um sich schlau zu machen. Dabei wird dann oftmals Spökenkiekerei aufgegabelt und mit sachlicher Information verwechselt.

Die Politiker stehen unter enormem Druck: Die Bürger erwarten von ihnen, die Gefahr abzuwenden. Bloß eine Minderheit meint, jeder Einzelne könne doch selbst abschätzen, welche Aktivitäten zu vermeiden sind, um einer Infektion zu entgehen. Die Politiker, mit dieser Staatsgläubigkeit belastet, wollen nicht Gefahr laufen, an den Pranger gestellt zu werden, weil sie das Virus unterschätzt hätten. Am vergangenen Mittwoch wurde also der »Lockdown« bis Mitte Februar verlängert.

Die Langzeitfolgen dieser Maßnahmen, die seit bald einem Jahr an- und abschwellen, werden ausgeblendet. Kurzfristiges Denken ist in einer Demokratie, um ein klinisches Wort zu verwenden, endemisch und folgt dem Turnus der Legislaturperioden. Die deutsche Wirtschaft ist gesund und kräftig. Man kann sie aber in die Knie zwingen. Karl Lauterbach, der »SPD-Gesundheitsguru«, wie er auch genannt wird, hat schon »Betriebsschließungen« vorgeschlagen.

Das kann man natürlich anordnen; man kann die Anti-Corona-Maßnahmen so weit ausdehnen, dass bloß noch große »systemrelevante« Konzerne wie Lufthansa (der Reiseveranstalter TUI gehört seltsamerweise auch dazu) dank Subventionen nicht um ihr Bestehen zu fürchten brauchen, während kleinere Mittelständler ihre Reserven aufzehren und dann Insolvenz anmelden müssen. Das hat bei jedem einzelnen Betrieb zur Folge: Entlassungen; Zubehör wird nicht mehr bestellt; bei den Zulieferern wird es dann auch eng. Und so wird die deutsche Wirtschaft sachte stranguliert.

Was arme Länder angeht, sieht es böser aus: Viele Menschen sind Tagelöhner, wenn sie nichts verdienen, haben ihre Familien nichts zu essen. Schon im Frühjahr riefen Demonstranten in Nairobi: »Wir haben mehr Angst vor dem Hunger als vor Corona.« Im vergangenen Oktober hat der Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) gesagt: »Die Menschen sterben an Malaria, Tuberkulose, HIV und anderen behandelbaren Krankheiten, weil keine Medikamente ins Land kommen und Impfkampagnen nicht stattfinden. Dazu kommt Hunger, weil Lieferketten ausgefallen sind und Arbeitsplätze über Nacht wegbrechen.« Müller sagte: »In Afrika werden mehr Menschen an den Folgen der Krise sterben als am Virus selbst.«

Das deutsche Gesundheitswesen ist gut. Darauf verlassen wir uns und finden Lockdowns klug. Weil viele nötige Operationen wegen »Corona« verschoben wurden, weil die Intensivstationen nicht ausgelastet gewesen sind, weil deshalb viele Krankenhäuser ihre Belegschaft 2020 in Kurzarbeit geschickt haben, musste die Bundesregierung Ende Dezember den Krankenhäusern staatliche Hilfe versprechen. Dessen ungeachtet, herrscht einigermaßen Konsens: Alles was geschlossen werden kann, müsse geschlossen werden, und möglichst wenige Menschen sollten einander treffen.

Oliver Lepsius, er lehrt Verfassungstheorie und öffentliches Recht in Münster, monierte in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« , dass »ohne Ansehen von Wirkungsketten die Kontaktaufnahmen« pauschal reduziert würden. Das treffe besonders ältere Menschen: Die könnten sich nun nicht mehr in Schwimmbädern und Fitnessstudios »ihre Beweglichkeit erhalten«. Die großflächigen Maßnahmen hält er für »Ausdruck der Hilflosigkeit der Politik: Kritische Nachfragen werden mit dem Hinweis pariert, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass man sich beim Theaterbesuch oder auf dem Weg dorthin infiziere. Solche Negativbeweise aber gibt es nicht«.

Die Anti-Corona-Maßnahmen gehen einher mit der Infantilisierung der Bürger. So hatte Karl Lauterbach im November gemahnt: Die Leute sollten »nicht so viel shoppen«, auf das »familiäre Zusammensein« komme es an. Dann wurde für die Weihnachtstage der Ukas erlassen, je nach Bundesland verschieden, dass nur soundso viele Menschen einander treffen dürften. Der Bundesgesundheitsminister Spahn erklärte: Bei den Weihnachtseinschränkungen sollten die Bürger bedenken, »dass die an oder mit Corona Gestorbenen gar kein Weihnachten mehr feiern können«. Manche mochten bei diesen Worten an eine sprichwörtlich gewordene Ermahnung vom Beginn der Siebzigerjahre erinnert sein: Wenn die Sprösslinge keinen Appetit hatten, wurden sie beschieden: Iss!, denk an die armen Kinder in Biafra, die gar nichts zu essen haben.

In Berlin, um ein Bundesland herauszugreifen, war die Zahl der an Weihnachten feiern Dürfenden auf fünf Personen von mehr als 14 Jahren beschränkt. Für die Wahl genau dieses Alters wurde keine Begründung gegeben. Kam man vielleicht darauf, weil ein Kind vom 14. Lebensjahr an strafmündig ist? Zwei Eltern plus zwei entsprechend alte Teenager macht zusammen vier. Da mussten Großeltern, mussten Tanten und Onkel sich überlegen, wer zu Hause bleibe. Soviel zum »familiären Zusammensein«.

Das Sterben der Alten in den Heimen geht indes weiter. Ein Grund, der da mit hineinspielt, ist grauenhaft simpel: Es gibt zu wenige Pflegekräfte; viele alte Menschen haben keinen Durst; als die Angehörigen im Frühjahr Mama oder Papa nicht besuchen und nicht zum Trinken nötigen durften, siechten die dahin – man weiß nicht, wie viele letztlich an Vereinsamung und Mangel an Flüssigkeit starben. Was stand dann auf dem Totenschein? Was steht heute auf den Totenscheinen? Fachleute wissen seit Monaten, dass die Bekämpfung von Corona nicht bloß ins Geld geht, sondern den Menschen auf die Seele; Depressionen und erhöhter Arzneimittelkonsum sind die Folge.

Derzeit wird gesagt, jemand sei »an oder mit« Covid-19 gestorben. Was heißt das eigentlich? Das Virus bringt in Deutschland vor allem alte kranke Menschen ums Leben. Die meisten werden nach ihrem Tod nicht obduziert. Man weiß in Wahrheit nicht genau, woran die Menschen tatsächlich gestorben sind: War es Covid-19 oder hat Covid-19 den Schwerkranken sozusagen den Rest gegeben? Es ist gut, dass darüber debattiert wird. Leider weiß man halt zu wenig.

Der Soziologe Wolfgang Streeck – mit dem Virologen gleichen Namens ist er nicht verwandt – hat neulich in der »FAZ« einen Vorschlag gemacht. Geld, merkte er an, sei offenbar derzeit in Fülle vorhanden. »Warum wissen wir dann nicht«, fragte Streeck, »was wir wissen könnten, wenn wir die eine oder andere repräsentative Umfrage veranstalten würden«. Es müsse doch herauszufinden sein, wie viele Menschen infiziert sind; wie viele von denen es nicht wissen; wie die »Infizierten sich von den Nichtinfizierten in Sozialprofil und Kontaktverhalten unterscheiden, wer die Risikogruppen sind und welches die Risikoorte«. Streeck zufolge hätten längst schon etliche Hunderte, gut instruierte Soziologiestudenten zu »langen qualitativen Interviews ausschwärmen« sollen. »Teuer, zugegeben«, schreibt er, »aber nichts im Vergleich zu dem, was die nicht enden wollenden Lockdowns kosten.«

Die Bundesregierung, die Regierungen der Länder hinterher, lässt sich von Leuten beraten, die sich mit Viren auskennen und mit mathematischen Modellen. So kam es dazu, dass Grundrechte mir nichts, dir nichts ausgesetzt wurden. So kam es dazu, dass das gesellschaftliche Leben kaltgestellt wurde. Manche wünschen, dass auch die Wirtschaft endlich schließen solle, möglichst komplett.

Es gibt tatsächlich Leute, die meinen, das Virus Sars-CoV-2 könne ausgemerzt werden. Die unerfreuliche Botschaft für die Vertreter dieser Meinung: Deutschland ist keine Insel. Das Virus ist da, und es wird – samt Mutationen – bleiben. Da helfen kein Lockdown und keine Grenzschließungen. Und bis die meisten geimpft sind, wird es noch Monate dauern. Nützlich wäre herauszufinden, wie und wo das Virus sich verbreitet. Unsäglich ist die Vorstellung, dass auch 2021 viele Menschen in Einsamkeit versinken und den wirtschaftlichen Ruin dulden sollen.

Und das auf welcher Grundlage? Die traurige Antwort: Mangel an Wissen.