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Susanne Beyer

Bundesnotbremse Die Büchse der Corona

Susanne Beyer
Ein Essay von Susanne Beyer
Deutschland braucht einen effizienten, aber keinen starken Staat. Die geplante Machtverschiebung Richtung Bund und die populistischen Rufe nach hartem Durchgreifen bergen Gefahren.
Sicherheitsdienst auf Streife in Hannover, April 2021

Sicherheitsdienst auf Streife in Hannover, April 2021

Foto: Moritz Frankenberg / dpa

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Was für ein Machtkampf, was für ein Spektakel und ja, was für eine Abwechslung: Laschet gegen Söder. Einmal geht es nicht um Leben und Tod, steigende Infektionszahlen, Impfstoffe. Der Kampf der beiden Parteivorsitzenden hat Netflix-Qualitäten – vor allem aber weil es, wie in jedem guten Drama, eine zweite Handlungsebene, einen doppelten Boden gibt: Während die Zuschauerinnen und Zuschauer gebannt der politischen Show zuschauen, werden Änderungen des Infektionsschutzgesetzes vorangetrieben, die dem Bund größere Eingriffsrechte bei der Pandemiebekämpfung zubilligen, die Länderchefinnen und -chefs in Teilen entmachten und es den Bürgerinnen und Bürgern erschweren, sich gerichtlich gegen die Beschränkungen zu wehren. Das hätte sogar Shakespeare gefallen, wie da ein lauter, bunter Machtkampf zweier Personen von einer Machtverschiebung ablenkt, die uns möglicherweise noch beschäftigen wird, wenn sowohl der Herr Söder als auch der Herr Laschet schon längst Geschichte sein werden.

Der Föderalismus ist der deutschen Geschichte tief eingeschrieben, es hatte sehr gute Gründe, dass sich nach 1945 eine Bundesrepublik herausgebildet hat, die genau daran anknüpfte. Es ging damals darum, Macht zu verteilen, Macht zu kontrollieren, zu verhindern, dass sich in der Zentrale zu viel Macht ansammelte. Doch auch wenn es zurzeit nur noch nerven mag, auf die hohe Bedeutung der föderalen Struktur zu pochen, auch wenn die Erleichterung verständlich ist, dass sich jetzt durch die sogenannte Bundesnotbremse endlich etwas tut, wodurch die Pandemie hoffentlich effektiver bewältigt werden kann, auch wenn die Infektionszahlen jede Ungeduld rechtfertigen, auch wenn sich die Bund-Länder-Runde als oberstes Gremium zur Pandemiebekämpfung zuletzt wirklich nicht bewährt hat, darf es in Deutschland nicht passieren, dass sich derlei Machtverschiebungen ohne erhebliches öffentliches Getöse, ohne genaueres Nachdenken darüber, was daran richtig und was falsch ist, ohne heftige Rede und Gegenrede vollziehen.

Natürlich sind die geplanten Änderungen im Infektionsschutzgesetz in den Nachrichten- und Kommentarspalten und in Talkshows Thema, auch im SPIEGEL werden sie sowohl analysiert als auch kontrovers besprochen, sie wurden am Freitag im Bundestag diskutiert und kritisiert und nächste Woche durch Bundestag und Bundesrat geschickt – aber ist in der Breite der Öffentlichkeit wirklich genug Aufmerksamkeit da? Wird sie nicht zu sehr zerstreut durch die Ränkespiele der Union? Und was hat der deutlich genervte Ton, der sich bei Befürwortern einer Gesetzesänderung gegenüber Skeptikern einschleicht, zu bedeuten? Und was das Wort der Kanzlerin bei der Debatte im Bundestag? »Das Virus verzeiht kein Zögern«, hat sie im Bundestag gesagt. Nein, das tut es wirklich nicht, ist es aber richtig, an diesem zentralen Ort der Demokratie vom »Zögern« zu sprechen und damit in Kauf zu nehmen, dass die Debatte mitgemeint ist? An diesem Ort, dem Parlament, sollten Debatten nicht mit solchen Worten belegt werden, denn die Bundestagsdebatte dient der Verbesserung politischer Vorgänge, sie ist der Kernbestand einer Demokratie und verträgt keine wie auch immer geartete Abwertung.

Die Debatte hat es in pandemischen Zeiten ohnehin schwer, es muss ja, wie gesagt, gehandelt werden. Es geht um Leben und Tod. Auch aus diesem Grund hält sich die Opposition in Deutschland nun seit mehr als einem Jahr insgesamt zurück. Und da die Große Koalition zu einer Art Dauerzustand geworden ist und die AfD sich zudem lieber in Pöbeleien ergeht, anstatt sich der Anstrengung echter Argumente zu unterziehen, zeigt sich das politische Personal, was den demokratischen Streit betrifft, bis auf wenige Ausnahmen schon zu lang nicht mehr in bester Form. Das ist alles nachvollziehbar und wäre gerade noch eben hinzunehmen, zeigte nicht zusätzlich der Streit zwischen Söder und Laschet in diesen Tagen, dass es auch hier kaum um Inhalte, um politische Konzepte geht, nicht darum, wer die besseren Argumente hat. Es geht um Popularität und vor allem um die Frage, wem eher Machtworte zuzutrauen sind. Die Popularität Söders bei der Bevölkerung liegt offenbar darin, dass man ihm solche Machtworte zutraut. Dass Söder sich eines verdächtigen Vokabulars bedient (»neue Demokratie«, »moderne Demokratie«), scheint viele nicht zu stören. Der Zeitgeist scheint also dahin zu tendieren, nicht das Abwägende, auf Inhalte Basierende zu bevorzugen, sondern ein Handeln ohne größeres Ringen, weil dies im Empfinden vieler Bürgerinnen und Bürger einem »Zögern« gleichkommt. Man kann aber auch um Inhalte ringen und trotzdem effektiv sein, wie sich vergangenes Jahr vor dem ersten Shutdown gezeigt hat. Dass die Kanzlerin und die Länderchefinnen und -chefs in den darauffolgenden Monaten mit ihren Chaosrunden den Menschen den Glauben daran genommen haben, ist unverzeihlich.

Wenn ein populistischer Zeitgeist auf eine Erschöpfung trifft und Machtverschiebungen zugunsten der Zentrale hinzukommen, ist die Lage dann doch besorgniserregend.

Die Änderungen am Infektionsschutzgesetz haben im Fall der Fälle erhebliche Einschränkungen zur Folge: In Landkreisen, in denen die Notbremse wirksam wird, kommt es zum Beispiel verpflichtend zu Ausgangssperren. Es gibt aber gute Gründe, deren Sinn zu bezweifeln, denn draußen ist die Ansteckungsgefahr gering. Befürworter der Ausgangssperre argumentieren, sie solle verhindern, dass Menschen draußen unterwegs sind, um sich drinnen zu treffen. Es sei jedem selbst überlassen, die Argumente der Befürworter richtig zu finden – aber die achselzuckende Gelassenheit, mit der etliche Menschen sich der Sichtweise der Befürworter anschließen, die kann nicht richtig sein.

Mal ehrlich: Wenn Anfang 2020 jemand gesagt hätte, in Deutschland würden ein gutes Jahr später Ausgangssperren verhängt, der wäre für komplett verrückt erklärt worden. Sich schlecht zu fühlen, um 21.04 Uhr auf der Straße zu sein – in Deutschland? Im Ernst? Wer sich für die Ausgangssperre ausspricht, müsste doch im selben Atemzug, und zwar immer, dazu sagen, wie schrecklich es ist, dass die Regierung sie nicht hat verhindern können, nämlich durch ein besseres Impfmanagement.

Gesundheitstests in Unternehmen sind der bisher üblichen Auffassung nach Verletzungen der Körpergrenzen. Natürlich möchte man im Moment, dass Unternehmen für die Sicherheit der Angestellten Sorge tragen und Tests zur Verfügung stellen. Was man sich aber doch trotzdem wünschen darf, sind Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, vor allem aber Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, die einen Sinn dafür behalten, dass Gesundheitschecks in Betrieben und Unternehmen tatsächlich grenzwertig sind und die absolute Ausnahme bleiben müssen. Denn was, wenn es in Zukunft um andere ansteckende Krankheiten geht?

Alles, was die Bundesregierung einfädelt, trägt noch das vertraute Gesicht von Angela Merkel. Sie ist auch deswegen immer wieder gewählt worden, weil genügend Menschen Gründe sahen, ihr abzunehmen, dass sie letztlich nach bestem Wissen und Gewissen handelt. Doch Angela Merkels Tage an der Macht sind gezählt, die Krise jetzt wird die Blaupause für folgende Krisen sein – und in der Klimakrise stecken wir schon mittendrin. Deswegen müssen Verschiebungen jetzt mit höchster Aufmerksamkeit und Sensibilität betrachtet werden.

Einmal verschärfte Gesetze sind so leicht nicht zurückzudrehen, zu sehen ist das zum Beispiel am Terrorismusbekämpfungsgesetz, das nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 als Teil eines Antiterrorpaketes entstanden ist und Änderungen anderer Bundesgesetze enthält. Die Befugnisse der Geheimdienste wurden erweitert, das Grundrecht auf das Post- und Fernmeldegeheimnis weiter eingeschränkt, Ausweisdokumente mussten in der Folge mit biometrischen Merkmalen versehen werden, die Vorschriften des Ausländerrechts wurden verschärft.

All das war alles in allem sinnvoll, aber das Terrorismusbekämpfungsgesetz war aus guten Gründen auf fünf Jahre befristet worden, man wollte Freiheitsrechte nicht ohne Not zu lang begrenzen. Doch das Terrorismusbekämpfungsgesetz wurde verlängert, bis kaum einer mehr darüber redete, ob es noch sinnvoll ist; es gilt immer noch. Auch hierfür gibt es gute Gründe, dass aber heftige Debatten über die Entfristung ausbleiben, zeigt, wie leicht man sich gewöhnt an etwas, wovon man vorher gedacht hatte, man gewöhne sich nie daran.

Ja, Deutschland braucht einen effizienten Staat, aber Deutschland braucht keinen starken Staat, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass sich in der Zentrale auch in Zukunft immer mehr Macht bündelt. Denn ein in diesem Sinne starker Staat ist nicht unbedingt effizient. Nur eine Verteilung der Macht auf diverse Verantwortliche ist in einer modernen, komplizierten Welt effizient.

Und an Freiheitsrechte zu erinnern, immer wieder, darf in Deutschland nicht ausgerechnet zwielichtigen Figuren von Rechtsaußen überlassen werden. Nochmal: Es braucht gerade jetzt Debatten, Achtsamkeit und Konzentration bei den Verantwortlichen und in der Breite der Öffentlichkeit. Eine aufmerksame Öffentlichkeit ist die beste Garantin für gutes Regieren.