Eigentlich sind es gute Nachrichten, wenn man sich die aktuelle Corona-Entwicklung hierzulande anschaut. Jedenfalls, was die Zahl der Patienten auf den Intensivstationen und die Zahl der Verstorbenen angeht. Zwar wurden mehr als 10.000 Menschen in der vergangenen Woche positiv auf das Virus getestet, so viele wie seit April nicht mehr, Tendenz weiter steigend. Doch gleichzeitig scheint die Situation noch unter Kontrolle zu sein, von Zuständen wie im April sind wir weit entfernt. Denn anders als damals herrscht in den deutschen Krankenhäusern noch Ruhe. Und auch die Zahl derjenigen, die an der Lungenkrankheit Covid-19 verstorben sind, ist seit Monaten niedrig.

Doch diese Zahlen können auch verunsichern: Wie kann es sein, dass die Zahl der Infizierten steigt, die der Toten aber niedrig bleibt? Sind die Warnungen vor den vermehrten Infektionen etwa unnötig? "Man kann den Panikmodus ausschalten", sagte kürzlich der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung Andreas Gassen. Und auch das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin sät in seiner Stellungnahme Zweifel am Sinn der Corona-Schutzmaßnahmen. Wenn man sich die Zahlen jedoch genauer ansieht, wird klar: Eine Entwarnung wäre fahrlässig.

Auch wenn aktuell nur wenige Menschen hierzulande schwer an der Infektion mit Sars-CoV-2 erkranken: Ungefährlich sind die steigenden Fallzahlen nicht. "Die Situation kann sich sehr schnell drehen", sagt Clemens Wendtner, Chefarzt an der München Klinik Schwabing, der schon seit Januar Covid-19-Patienten versorgt. Doch dazu später mehr.

Je mehr getestet wird, desto genauer das Bild

Seit Juli stieg die Zahl der bestätigten Neuinfektionen an, erreichte am 24. August einen vorläufigen Höhepunkt, fiel dann kurz ab und nahm zuletzt wieder zu. Müsste sich das nicht längst stärker an der Zahl der Todesfälle bemerkbar machen? Das fragen sich gerade viele. 

Zunächst aber einmal die Frage: Ist die Sterblichkeit überhaupt auffällig gering, und wenn ja: Woran erkennt man das eigentlich?

Die absolute Zahl der Todesfälle allein ist an dieser Stelle nämlich wenig aussagekräftig. Auch ein Vergleich mit den Infektionszahlen gestaltet sich schwierig: Denn von der Ansteckung mit dem Coronavirus bis zum Tod eines Menschen vergehen mehrere Wochen. Zwischen dem Peak der Infektionen Anfang April und dem Höhepunkt der Todesfälle lagen etwa zwei Wochen. Die Entwicklung der Todeszahlen folgt der der Infizierten und solang die Infektionszahlen steigen, dauert es, bis sich die Entwicklung der Fallzahlen auch auf die Zahl der Todesfälle auswirkt.

Jetzt ließe sich einwenden, dass sich der Peak vom 24. August dann mittlerweile auch in den Todesfallzahlen niederschlagen müsste. Ein berechtigter Einwand. Aber so einfach ist es leider nicht. Denn mit dem ersten großen Ausbruch des Coronavirus lässt sich die aktuelle Situation kaum vergleichen.

Niedrigere Dunkelziffer als zu Beginn des Ausbruchs

Seit März wurden die Testkapazitäten massiv ausgebaut, mittlerweile werden Reiserückkehrerinnen und Mitarbeiter von Krankenhäusern regelmäßig getestet, Kontaktpersonen von Infizierten konsequent nachverfolgt. Die Dunkelziffer, also die Zahl der infizierten Menschen, die nicht erkannt werden, dürfte heute deutlich niedriger liegen als vor einigen Monaten. Das heißt: Der Ausbruch im März und April dürfte wesentlich größer gewesen sein, als die Zahl der bestätigten Infektionen es vermuten lässt.

Weniger als einer von 100 Tests ist positiv

Schon Mitte März wurden die Testkapazitäten in Deutschland stark ausgebaut. Wichtiger als die Zahl der Tests selbst ist die Frage, wie viele davon positiv ausfielen. Nach dem ersten Ausbruch sank die Testpositivrate stark. Inzwischen fällt weniger als einer von 100 Tests positiv aus. Solang die Testpositivrate ungefähr konstant bleibt, kann man davon ausgehen, dass ein Anstieg der bestätigten Infektionen bedeutet, dass sich wirklich mehr Menschen anstecken.

Teilt man schlicht die Zahl der Verstorbenen durch die Zahl der bestätigten Infektionen, so ist es kein Wunder, dass dieser Wert – Epidemiologinnen und Wissenschaftler nennen ihn die Fallsterblichkeit (oder Englisch: Case Fatality Rate, kurz CFR) –  im Frühjahr deutlich höher lag. 

Aussagekräftiger als die Fallsterblichkeit ist – zumindest theoretisch – die tatsächliche Sterblichkeit, die Infection Fatality Rate (IFR). Sie beschreibt, wie viele der Menschen, die sich mit Sars-CoV-2 anstecken, daran versterben. Und diese Rate ist immens wichtig, um zu verstehen, wie gefährlich ein Erreger tatsächlich ist. Auch wenn die beiden Werte zunächst identisch klingen mögen, es gibt einen bedeutsamen Unterschied: Die Infection Fatality Rate bezieht sich nicht nur auf die Zahl der offiziell bestätigten Infektionen, sondern auch auf die Menschen, die sich angesteckt haben, aber nie getestet wurden. Doch die sind fast unmöglich zu ermitteln.

Schätzen lässt sich die tatsächliche Sterberate nur durch groß angelegte Studien, in denen zufällig ausgewählte, große Teile der Bevölkerung getestet werden – auch Menschen, die überhaupt keine Symptome haben und deshalb bei den momentanen Tests sehr wahrscheinlich durchs Raster fielen. Weil die PCR-Tests dafür zu aufwendig sind und sie eine Infektion nur für kurze Zeit nachweisen können, eignen sich dafür eher Antikörperstudien, bei denen das Blut auf eine zurückliegende Infektion untersucht wird. In einem Review haben australische Wissenschaftler mehrere aktuelle Antikörperstudien zusammengefasst und schätzten so die Sterblichkeit auf 0,5 bis 0,8 Prozent, ein Wert also, der nicht besonders stark von den Schätzungen im März abweicht. 

Es gibt keine Hinweise darauf, dass das Virus heute weniger gefährlich wäre. Zum Vergleich: Für die saisonale Grippe wird die Sterblichkeit auf 0,1 Prozent geschätzt, allerdings besteht gegen die Influenza eine Grundimmunität in der Bevölkerung – und für Risikogruppen gibt es eine Impfung.